Charles Baudelaire

Étienne Carjat, Portrait Charles Baudelaire, ca. 1862
Étienne Carjat, Portrait Charles Baudelaire, ca. 1862

Ich werde jetzt von einem der bedeutendsten Männer sprechen, nicht allein in der Karikatur, sondern überhaupt in der modernen Kunst, von einem Manne, der jeden Morgen die Pariser Bevölkerung amüsierte, der jeden Tag das allgemeine Bedürfnis nach Frohsinn befriedigte und ihm seine Weide gab. Die Bürger, Geschäftsleute, die Straßenjungen und die Frauen lachen und gehen oft vorüber, die Undankbaren! ohne den Namen zu beachten. Einzig die Künstler haben ganz begriffen, daß sich Ernstes darunter verbirgt und in der Tat Stoff zu einer Studie gibt. Das erste Auftreten Honoré Daumiers war nicht sehr glänzend; er zeichnete, weil er das Bedürfnis hatte, zu zeichnen, weil es eben sein unvermeidlicher Beruf war. Er brachte zuerst einige kleine Skizzen in einem von William Duckett ins Leben gerufenen Journal unter; dann kaufte Achille Ricourt, der damals einen Handel mit Stichen betrieb, ihm einige andere davon ab. Die Revolution von 1830 rief wie alle Revolutionen ein Karikaturen-Fieber hervor. Das war allerdings für die Karikaturisten eine schöne Zeit. In diesem erbitterten Kriege gegen die Regierung und besonders gegen den König waren alle ganz Herz, ganz Feuer. Es ist wirklich ein interessantes Ding, heute jene ungeheure Reihe historischer Späße zu betrachten, die man La Caricature nannte: ein großes komisches Archiv, in dem alle Künstler von irgendwelchem Werte ihre Beiträge niederlegten. Dieses phantastische Heldengedicht wird gekrönt durch die pyramidale, olympische Prozeßbirne seligen Angeden­kens. Ein jeder weiß wohl noch, daß Philipon, der alle Augenblicke mit der königlichen Justiz ein Hühnchen zu rupfen hatte, dem Gerichtshof einmal recht beweisen wollte, daß nichts Unschuldigeres existiere, als diese aufreizende, unheilschwangere Birne; er zeichnete darum vor den versammelten Richtern eine Reihe von Skizzen, von denen die erste genau die Figur des Königs darstellte, während die übrigen sich immer mehr von dem ursprünglichen Typ entfernten und sich immer mehr und mehr der verhängnisvollen Form der ‚Birne‘ näherten. „»Bitte,«“ sagte er, „»was für Beziehungen entdecken Sie zwischen dieser letzten Skizze und der ersten?«“ *)

*) Das Blatt mit den hier gemeinten vier Zeichnungen Philipons…

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…hat übersetzt folgenden Text:

Die Birnen, verfertigt im Pariser Schwurgerichtsaal vom Herausgeber der Caricature. Aus dem Erlös dieses Blattes‘ sollen die 6000 Francs Buße des Charivari bestritten werden. (Bei Aubert, Galerie Vero Dodat.)

Wenn Ihnen eine bloße Ähnlichkeit genügt, um in einer Karikatur den Monarchen zu erkennen, so geraten Sie damit ins Absurde. Sehen Sie sich diese unförmigen Zeichnungen an, auf die ich vielleicht meine Verteidigung hätte basieren können:

 Diese Zeichnung ähnelt Louis Philipp; Sie werden sie also verurteilen?

 Alsdann muß auch diese verurteilt werden, die der ersten ähnelt.

 Und dann auch diese weitere, die der zweiten ähnelt.

  Und schließlich, wenn Sie konsequent sind, werden Sie auch diese Birne nicht freisprechen können, die den vorhergehenden Zeichnungen ähnelt.

  Also für eine Birne, pour une brioche — (brioche heißt zunächst Wecken oder Stulle – wäre also vielleicht zu übersetzen: für ein Butterbrod, für einen Pappestiel, für nichts und wieder nichts – es hat aber auch den Nebensinn von dummer Streich!) — und für alle Groteskköpfe, in welche Zufall oder Bosheit diese traurige Ähnlichkeit gelegt hat, könnten Sie den Urheber zu fünf Jahren Gefängnis und fünftausend Francs Buße verurteilen!! Gestehen Sie, meine Herren, daß das eine sonderbare Preßfreiheit ist!!   (M. B.)

Durch diese plastische Ausdrucksweise hatte man die Macht, dem Volke alles zu sagen und alles zu verstehen zu geben, was man wollte. Darum sammelte sich um diese verwünschte, tyrannische Birne die große Bande der patriotischen Heuler. Jedenfalls barg sich Erbitterung und eine wunderbare Übereinstimmung darunter, der die Justiz mit Hartnäckigkeit parierte, und wenn wir heute die alten Witzblätter durchblättern, so versetzt es uns in ungeheure Verwunderung, daß ein so erbitterter Krieg sich jahrelang hinziehen konnte. Diese Zeichnungen sind oft voll von Haß und Blut. Gemetzel, Einkerkerungen, Verhaftungen, Verfolgungen, Prozesse, Verprügelungen der Polizei, alle jene Episoden aus der ersten Zeit der Regierung von 1830 wiederholen sich jeden Augenblick; man urteile selbst:

Die Freiheit, jung, schön und den Kopf bekleidet mit der phrygischen Mütze, schlummert einen gefährlichen Schlaf und denkt kaum der Gefahr, die sie bedroht. ‚Ein Mann’ nähert sich ihr vorsichtig und in böser Absicht. – Er hat den dicken Hals eines Gemüsehändlers oder eines Großgrundbesitzers. Sein birnenförmiger Kopf wird von einem hochstehenden Toupet überragt und von einem großen Backenbart begleitet. Man sieht die Rückansicht des Monstrums, und das Vergnügen, seinen Namen zu erraten, erhöht nicht wenig den Wert des Stiches. Er nähert sich der jungen Person. Er ist im Begriff, sie zu überfallen. »Haben Sie zur Nacht gebetet, Madame?« Und Othello Philipp erstickt die unschuldige Freiheit trotz ihres Geschreis und ihres Widerstandes.

An einem mehr als verdächtigen Hause geht ein ganz junges Mädchen vorbei, den Kopf mit der kleinen phrygischen Mütze bedeckt, die sie mit der unschuldigen Koketterie einer demokratischen Grisette trägt. Die Herren so und so (bekannte Gesichter, – die ehrenwertesten Minister, sicherlich) betreiben hier ein besonderes Gewerbe. Sie umringen das arme Mäd­chen, sagen ihr Schmeicheleien oder Schmutzworte ins Ohr und treiben sie sanft nach einem engen Korridor. Hinter einer Tür verrät sich der ‚Mann’. Sein Profil verliert sich, aber er ist es gewiß! Denn Toupet und Backenbart sind da. Er wartet, er ist ungeduldig. – Auf allen diesen Zeichnungen, von denen die meisten mit Ernst und mit bemerkenswerter Gewissenstiefe gemacht sind, spielt der König die Rolle des Menschenfressers, des Mörders, des unersättlichen Gargantua, ja schlimmere noch zuweilen.

Mit derselben Wut führte die Caricature mit der Regierung Krieg. Man hatte ein Mittel gefunden, um die Geldstrafen zu bestreiten, mit denen der Charivari überhäuft wurde; man veröffentlichte nämlich in der Caricature Ergänzungen zu den Zeichnungen, deren Erlös für die Bezahlung der Geldstrafen bestimmt war. Bei Gelegenheit des beklagenswerten Gemetzels in der Rue Transnonain zeigte sich Daumier schon als ein wahrhaft großer Künstler. Die Zeichnung ist recht selten geworden, denn sie wurde beschlagnahmt und vernichtet. Er gab zwar nicht unbedingt Karikatur, sondern Geschichte, alltägliche und furchtbare Wirklichkeit: In einem ärmlichen, traurigen Zimmer, dem üblichen Zimmer des Proletariers, mit gewöhnlichen, unentbehrlichen Möbelstücken, liegt der Länge nach auf dem Rücken mit ausgestreckten Armen und Beinen der Körper eines nackten Arbeiters in Hemd und Baumwoll-Mütze. Zweifellos hat in dem Zimmer ein großer Kampf und Skandal stattgefunden, denn die Stühle, der Nachttisch und das Nachtgeschirr sind umgestürzt. Unter dem Gewicht seines Leichnams, zwischen seinem Rücken und den Steinfliesen hat der Vater die Leiche seines kleinen Kindes zerquetscht. In dieser kalten Mansarde herrscht nichts als Schweigen und Tod.

In dieser Epoche begann Daumier auch mit einer Galerie satirischer Porträts von politischen Persönlichkeiten. Er hat zwei Galerien solcher Porträts gemacht; die eine zeigt die Betreffenden in ganzer Gestalt, die andere als Brustbilder. Diese, glaube ich, ist neuer und enthält nur die Paladine von Frankreich. Der Künstler offenbart darin eine wunderbare Intelligenz für das Portrait; und obgleich er die Züge des Originals alle übertreibt und ins Lächerliche zieht, ist er doch der Natur so treu geblieben, daß diese Sachen allen Porträtisten als Vorbild dienen können.

Die ganze Armut des Geistes, alle Lächerlichkeiten, alle Torheiten des Verstandes, alle Laster des Herzens sind auf diesen vertieften Gesichtern deutlich zu sehen und zu lesen; und zugleich ist alles großzügig gezeichnet und hervorgehoben. Daumier besaß die Beweglichkeit eines Künstlers und die Sorgfalt eines Lavater. Übrigens sind von seinen Werken die, welche aus jener Zeit datieren, sehr verschieden von dem, was er heute macht. Sie waren noch nicht mit der Leichtigkeit hingeworfen, hatten nicht den losen, lockeren Strich, den er sich später aneignete. Bisweilen, wenn auch nicht oft, sind sie ein wenig plump, aber immer sind sie sehr vollendet, sehr gewissenhaft und sehr richtig gezeichnet.

Mir fällt noch eine sehr schöne Zeichnung ein, die dieser Klasse angehört: Die Pressfreiheit. Inmitten seiner Freiheit-Werkzeuge, seiner Buchdrucker-Geräte steht breitspurig, fest auf seinen großen Füßen ruhend, ein Buchdrucker, die geheiligte Papier-Mütze auf dem Ohre, die Hemdsärmel aufgekrempelt, mit geballten Fäusten und gerunzelten Augenbrauen. Der ganze Mann ist muskulös und wie die Figuren der großen Meister gebaut. Im Hintergrunde der ewige Philipp und seine Stadt-Sergeanten. Sie wagen nicht, sich mit ihm einzulassen. – Daumier hat sein Talent an tausend verschiedenen Stellen verstreut.

Blättert man seine Werke durch, so sieht man in phantastischer, ergreifender Wirklichkeit vor den Augen alles sich entrollen, was eine große Stadt an lebenden Ungeheuerlichkeiten enthält. Alles was sie an Schätzen birgt, alles Schreckliche, Groteske, Düstere und Lustige, Daumier kannte es. Die lebendige, verhungerte Leiche, der fette, gemästete Leichnam, die lächerlichen Miseren des Haushaltes, die Dummheiten, der Hochmut, der Enthusiasmus und die Verzweiflung des Bürgers, nichts fehlt darunter. Keiner hat wie er (in der Art des Künstlers) den Bourgeois gekannt und geliebt, jene letzte Spur aus dem Mittelalter, jene gotische Ruine, die ein so hartes Leben hat, jenen so gewöhnlichen und zugleich so exzentrischen Typus. Daumier hat eng mit ihm zusammen gelebt, er hat ihn Tag und Nacht belauert, er kennt die Geheimnisse seines Alkovens, er hat sich seiner Frau und seinen Kindern angeschlossen, er kennt die Form seiner Nase, die Konstruktion seines Kopfes, er weiß, was für ein Geist das Haus von oben bis unten durchweht.Unmöglich wird es sein, eine vollständige Analyse der Werke Daumiers zu geben; ich werde die Titel seiner Hauptserien angeben, ohne zu viel über ihren Wert oder zu ihrer Erklärung zu sagen. Jede von ihnen enthält prachtvolle Stücke:

Robert Macaire, Eheliche Sitten, Pariser Typen, Profile und Silhouetten, Die Männer im Bade, Die Frauen im Bade, Pariser Kahnfahrer, Die Blaustrümpfe, Schäferspiele, Die alte Geschichte, Die guten Bürger, Die Leute von der Justiz, Der Tag des Herrn Coquelet, Die Philanthropen von heute, Tagesereignisse, Alles was man möchte, Vertretung der Volksvertreter.

Hinzu kommen noch die beiden Porträt-Galerien, von denen ich gesprochen habe. *)

Ich habe noch zwei wesentliche Bemerkungen zu machen in bezug auf die beiden Serien Robert Macaire und Die alte Geschichte. Robert Macaire bedeutete die entscheidende Einführung der Sitten-Karikatur. Der lange politische Krieg hatte sich ein wenig beruhigt. Die Hartnäckigkeit der Verfolgungen, die Haltung der Regierung, die sich mehr gefestigt hatte, und ein gewisse natürliche Lässigkeit des menschlichen Geistes hatten viel Wasser in jenes Feuer gegossen. Es galt neues zu finden. Das Pamphlet machte der Komödie Platz. »Die Menippische Satire« überließ Moliere den Boden, und der große Heldensang von Robert Macaire, den Daumier in flammender Weise vortrug, folgte den revolutionären Zornesausbrüchen und den anzüglichen Zeichnungen. Seitdem nahm die Karikatur eine neue Wendung, sie war nicht mehr speziell politisch. Sie wurde zur allgemeinen Satire des Bürgers und begab sich damit auf das Gebiet des Romans.

*) infolge einer regelmäßigen, unaufhörlichen Produktion ist diese Liste mehr als unvollständig geworden. Daumier und ich wollten einmal einen vollständigen Katalog seiner Werke machen. Es hat uns beiden nicht gelingen wollen. C. B. – (Ein Gesamtverzeichnis der Lithographien, Holzschnitte, Radierungen, Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen und Skizzen, wie auch der vereinzelten bildhauerischen Arbeiten Daumiers findet sich in der bereits angeführten Monographie von Arsène Alexandre. Neben ihm sind die paar Anführungen Baudelaires allerdings mehr als unvollständig“, selbst wenn man sich auf einen Überblick über Daumiers karikaturistische Tätigkeit beschränken will.  (M. B.)

Auch Die alte Geschichte erscheint mir bedeutsam, denn sie ist sozusagen die beste Paraphrase des berühmten Verses;

„Wer macht uns frei vom Bann der Griechen und der Römer?“

Daumier, hat sich grausam über das Altertum hergemacht, über das falsche Altertum, denn niemand fühlt besser als er die Größe der Alten“ – er hat darauf gespieen; und der aufbrausende Achill, und der kluge Ulysses, und die weise Penelope, und Telemach, dieser große grüne Junge, und die schöne Helena, die Troja ins Verderben stürzte, und alle andern erscheinen vor uns in einer lächerlichen Häßlichkeit, bei der wir an jene alten Gerippe von tragischen Schauspielern denken, die hinter den Coulissen eine Prise Tabak nehmen. Das war ein amüsanter Götterfrevel, der sein Nützliches hatte. Ich erinnere mich, daß einer meiner Freunde, ein altertümelnder Lyriker, sehr empört darüber war. Er nannte das eine Ruchlosigkeit, und sprach von der schönen Helena, wie andere von der Jungfrau Maria sprechen. Aber die, welche etwas weniger Respekt vor dem Olymp und der Tragödie haben, amüsierten sich natürlich darüber.*)

*) Die Histoire ancienne ist 1902 auch in einer deutschen Ausgabe erschienen (bei A. Hofmann & Co. in Berlin); der Titel lautet hier: Die ollen Griechen; Bilder zur Sage und Geschichte der Alten, mit Versen von W. Polstorff, nebst einer Einleitung von Ed. Fuchs. — M. B.

Daumier hat es, um zum Schluß zu kommen, sehr weit in seiner Kunst gebracht; er hat eine ernste Kunst daraus gemacht; er ist ein großer Karikaturist. Will man ihn würdig einschätzen, – so muß man ihn vom künstlerischen und vom moralischen Gesichtspunkte aus analysieren. Was Daumier als Künstler auszeichnet, das ist die Gewissenhaftigkeit. Er zeichnet wie die großen Meister. Seine Zeichnung ist reich und leicht, eine ausgeführte Improvisation; und doch ist sie niemals chic. Er hatte ein wunderbares, fast göttliches Gedächtnis, das ihm das Modell ersetzte. *)

*) In der Tat wird allgemein erzählt, Daumier, dessen Karikaturen doch so oft an das Porträt streifen, habe nie nach dem Modell, sondern stets aus dem Kopf gezeichnet. — M. B.

Alle seine Figuren sind ausgezeichnet in den Verhältnissen und immer wahr in der Bewegung. Er hat eine sichere Beobachtunggabe, so daß man bei ihm nicht einen Kopf findet, der nicht mit dem Körper, der ihn trägt, übereinstimmt. So die Nase, so die Stirn, so das Auge, so der Fuß, so die Hand. Das ist die Logik des Gelehrten in eine leichte, flüchtige Kunst übertragen, die trotzdem die Beweglichkeit des Lebens hat.

Was nun die Moral angeht, so hat Daumier da gewisse Be­zieh­ungen zu Moliere. Wie dieser geht er gerade auf sein Ziel los. Der Gedanke tritt unmittelbar hervor. Man sieht sich´s an und man hat verstanden. Die Erklärungen, die unter seine Zeichnungen geschrieben worden sind, dienen zu nichts Wesentlichem, denn sie könnten gewöhnlich fehlen. Seine Komik ist sozusagen unfreiwillig. Der Künstler sucht nicht; man sollte lieber sagen: die Idee ist ihm entschlüpft. Seine Karikatur ist von furchtbarer Größe, aber ohne Haß und Bitterkeit, denn in allen seinen Werken birgt sich ein Fond von Ehrenhaftigkeit und Wohlwollen. Er hat – ein bemerkenswerter Zug – sich oft geweigert, gewisse sehr schöne und sehr ungestüme satirische Motive zu behandeln, weil sie, wie er sagte, die Grenzen des Komischen überschritten und das menschliche Gewissen verletzen könnten. Auch da, wo er erschütternd und schrecklich ist, ist er′s fast immer, ohne zu wollen. Er hat gemalt was er sah, und das Resultat hat sich ergeben. Bei seiner leidenschaftlichen und durchaus angeborenen Liebe zur Natur wurde es ihm leicht, das Gebiet der absoluten Komik zu erreichen. Und mit Sorgfalt vermied er jeden Gegenstand, der einem französischen Publikum nicht eine klare, unmittelbare Anschauung gegeben hätte.

Noch ein Wort. Was die bedeutsame Eigenart Daumiers noch erhöht und ihn zu einem Künstler aus der erlauchten Familie der Meister stempelt, das ist die natürliche Farbigkeit seiner Zeichnungen. Seine Lithographien und seine Holzschnitte erwecken die Idee der Farbe. Sein Stift enthält andere Dinge als das Schwarz, das gut für die Umränderung der Konturen ist; er läßt die Farbe sowohl wie die Gedanken erraten; das aber ist das Merkmal einer höheren Kunst und zugleich das, was alle intelligenten Künstler deutlich aus seinen Werken gelesen haben. *)

*) Zu denen, die Daumiers hohe künstlerische Qualitäten sogleich richtig einzuschätzen vermochten, gehört auch Balzac. Er war ein Freund Philipons und ein eifriger Förderer und anonymer Mitarbeiter der Caricature. Als er bei dieser Gelegenheit einige Kompositionen Daumiers zu Gesicht bekam, rief er aus – so wenigstens berichtet a.a.O. Arsène Alexandre: „Dieser Bursch, meine Kinder, hat Michelangelo im Leibe!” — Und umgekehrt hat bekanntlich Daubigny beim Anblick der sixtinischen Fresken ausgerufen: „Aber das ist ja wie von Daumier!” — Mittlerweile sind Vergleiche Daumiers mit Michelangelo schon fast zu Gemeinplätzen geworden, sodaß man zur Veränderung wohl einmal Baudelaires Hinweis auf die natürliche Farbigkeit der Daumierschen Schwarz-Weiß-Arbeiten beachten und – andere Vergleiche ziehen könnte. — M. B.

Abbildung o.l.: Étienne Carjat, Portrait Charles Baudelaire, ca. 1862

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