Théodore de Banville

Théodore de Banville
Théodore de Banville

Aus: Mes souvenirs (1882)

Während meiner Zeit als Mitarbeiter der Zeitung Le Corsaire erwies sich eines Tages die Titelvignette des Blattes als derart verbraucht und abgenutzt, daß man sie vernünftigerweise nicht mehr verwenden konnte. Diese Vignette – sie stammte wohl von dem geistreichen Tony Johannot – entbehrte jedes gesunden Menschenverstandes, doch das lag am Sujet und ganz und gar nicht an dem Künstler. Auf Deck eines kampfbereiten Schlachtschiffs schwang ein großer Kerl von einem Matrosen eine gigantische Feder, während andere um ihn herum gewissenhaft Vorbereitungen zu einer Seeschlacht trafen. Da dieser mitleiderregenden Zeichnung dringend ein wohlverdienter Ruhestand gewährt werden mußte, da die Abzüge nur noch einen verschwommenen, schmutzigen grauen Fleck hergaben, den sinnlose weiße Löcher unterbrachen, mußte ernstlich an Ersatz gedacht werden, zu welchem Behuf eine Beratung mit den Redakteuren abgehalten wurde.

Mit dem leidenschaftlichen, feurigen Glauben der Jugend brachte ich sogleich den Namen Honoré Daumier ins Gespräch mit dem Bemerken, dieser Sittenschilderer, dieser große Satiriker sei ein Genie. Auf diese unvorsichtige Behauptung sprang mein Chefredakteur auf einmal hoch, als hätte er auf hunderttausend Bajonetten gesessen. Ich habe Monsieur Virmaître als einen geistvollen Mann in liebenswürdigster Erinnerung; doch in jenem Augenblick dachte er wie alle Welt und war nicht weit davon entfernt, Daumier für einen blutrünstigen Wilden zu halten.

Das sieht Ihnen ähnlich!, meinte er, Ihnen fallen die großen Männer zu, als würde es deren regnen, und die Genies kosten Sie nicht mehr als unseren lieben Balzac, der überall welche wittert, sogar in der ehrenwerten Zunft der Pförtner.

Man hätte sich geschlagen geben können; doch ich hatte immer vor Augen das Beispiel des thrakischen Königs Orpheus, des Erfinders der Kithara, der einzig und allein durch Worte seine teure Gattin Eurydike aus der Unterwelt zurückholte; und mein Grundsatz lautet: wir sollten immer in der Lage sein, mit Hilfe wohlklingend geordneter Wörter die Geister mitzureißen und die Seelen zu überzeugen. So sagte ich viel und vieles mit so brennender, so durchschlagender Aufrichtigkeit, daß Monsieur Virmaître schließlich, weniger überzeugt als ermattet, meinem Wunsch willfahrte. Obendrein gab er mir Auftrag, die Verhandlungen zu führen, und so war ich diplomatischer Anfänger gleich zum Botschafter ernannt. Die neue Titelvignette des Corsaire sollte durch mich bei Daumier bestellt werden, und, wie verschwenderisch, welcher unerhörte, in dieser Zeit unglaubliche, rothschildhafte Luxus, mit … hundert Francs entlohnt werden! So machte ich mich auf den Weg zu dem nie gesehenen Meister, stolz auf meinen Erfolg, selbstzufrieden, die Stirn den Sternen nahe, als hätte Mäzenas selbst mich unter die lyrischen Dichter aufgenommen, und ich verfügte über die nur erst versprochenen fünf Zwanzigfrankenstücke, als seien sie bereits in meiner Tasche.

Als ich das Atelier betrat, saß Daumier an einem Tisch, über einen Lithographiestein gebeugt, und arbeitete; dabei sang er Kettlys Rondeau „Selige Bewohner der schönen Täler Helvetiens…“ vor sich hin, dessen abgründige Einfalt ihn wie ein seltener Trank berauschte und ihm half, den langsamen, quälenden Flug der Stunden zu ertragen. Ich bewunderte sein von Energie und Güte strahlendes Gesicht, die kleinen Augen mit dem durchdringenden Blick, die Nase, die wie durch den Windstoß des Ideals emporgeschürzt war, den feinen, freundlichen, weit geöffneten Mund, kurz: den ganzen schönen Kopf des Künstlers – dem der Bürger, die er schilderte, ähnlich, jedoch gestählt in den heißen Flammen des Geistes; und sogleich begann ich ihm den Zweck meines Besuches zu erläutern, forderte mit Nachdruck das erwünschte Meisterwerk ein und bat ein für alle Mal um Nachsicht dafür, daß ich ihm nur hundert Francs zahlen konnte.

Doch die Geldfrage blieb Nebensache; Daumier fragte den Teufel danach. Schlimmer war, daß er die Zeichnung gar nicht machen wollte. Zuerst schob er vor, er sei des Zeichnens auf Holz müde, es langweile ihn, er wolle sich nicht mehr damit befassen; die Lithokreide allein gehorche seinem Gedanken, während der Bleistift störrisch und unfolgsam sei; überhaupt verabscheue er jetzt diese Arbeit, bei der in neun von zehn Fällen der Zeichner durch den Formschneider verraten und entehrt wird. Ich versicherte ihm, darum handele es sich ganz und gar nicht, die Redaktion des Corsaire bestehe aus einer Bande junger Dichter, befeuert von einem Willen, einem Eifer, einem romantischen Furor, einem Lebensfieber, die nicht anders als durch eine Zeichnung von seiner Hand ausgedrückt werden könnten; wir wollten, wir brauchten diese Zeichnung, ich hätte mich verpflichtet, sie zu gewinnen, ich hätte für sie gekämpft und gelitten und liebte sie schon im Voraus. – Da nun Daumier einsah, daß ich von meinem Wunsch nicht abstehen würde, entschloß er sich, mir den wahren Grund für seine Absage zu enthüllen.

Hören Sie, sagte er, ganz aufrichtig, Sie gefallen mir, und es gibt nichts, was ich für Sie nicht täte, mit Ausnahme dieser Zeichnung; denn wer sie auch immer macht, sie wird immer töricht sein. Der Teufel hole diese Allegorien ohne Sinn und Verstand! Verstehen Sie doch, eine Zeitung ist kein Schiff, und ein Seeräuber ist kein Schriftsteller; aber wie man es auch immer anstellt, man wird doch immer bei diesem Unsinn landen: ein Journalist, der mit einer Kanone schreibt, oder ein Soldat, der mit einer Feder kämpft! Nur das nicht! In meiner Familie kommt solches Brot nicht auf den Tisch!

Und nachdem er dies gesprochen, begann Daumier wieder Kettlys Lied zu summen: „Fern von den Ränke­schmieden, den Kokotten und Böse­wichten!…“

Und er versicherte mir von neuem, er werde die Zeichnung nicht machen; ich schwor ihm er werde sie machen. Schließlich, ungeduldig geworden, aber immer noch das abscheuliche Lied auf den Lippen, „Auf den glücklichen Fluren, wo Lavater geboren ward“, erklärte er mir gerade ins Gesicht: Ich arbeite von morgens bis abends, weil es sein muß, aber im Grunde bin ich fauler als tausend Blindschleichen. Und sobald es nicht um die tägliche Arbeit geht, zu der ich verdammt bin, bringt mich meine Faulheit auf die unvorstellbarsten Ausflüchte. Sollten Sie darauf bestehen, diese Zeichnung zu erhalten, und sollte ich die Schwachheit besitzen, sie Ihnen zu versprechen, ahnen Sie nicht, zu welcher Niedertracht, zu welchen Spitzfindigkeiten, zu welchen feigen Lügen ich greifen werde, um nicht Wort halten zu müssen!

Aber, erwiderte ich, ich werde auf Listen mit Listen antworten, wie die Helden der Ilias.

Sie werden mir also noch mehr auf die Nerven gehen als ein Verleger?

Gewiß, antwortete ich.

Einen Augenblick war er niedergeschmettert, dann kehrte er zu Kettlys Lied Der Bergbewohner zurück: „Da er stets einen Bruder fand…“; und dann spielte sich tatsächlich alles so ab, wie er es vorausgesagt hatte. Entgegen aller Vernunft und aller Gerechtigkeit bestand ich auf meinem Ansinnen; Daumier, der nichts hatte versprechen wollen und gesollt hätte, sagte zu. Von nun an ließ ich das Atelier auf der Ile Saint-Louis nicht mehr in Ruhe, fiel jeden Augenblick wie ein Meteorit nieder, und mein Feind ließ sich mehr Lügengeschichten einfallen als je der erfinderische Sohn des Laertes. Heute war die Zeichnung fertig, es fehlten nur noch ein paar Striche, aber ich durfte sie noch nicht sehen; bald hieß es, ganz anders, die Idee sei noch nicht gefunden, doch bedürfte es dazu nur eines winzigen Anstoßes. Ein andermal quälte ihn eine überfällige Lithographie, aber sobald sie fertig sein würde, gehöre er ganz meinem Auftrag. Und der ehrliche, der gütige, der aufrichtige Honoré Daumier war durch meine Zudringlichkeit so erfinderisch geworden wie ein ganzes Regiment von Zahnärzten!

Ich mißbrauchte seine Gast­freundschaft, ich genoß sein so unterhaltsames Gespräch, ich erlebte die Entstehung seiner von Leben wimmelnden Lithographien; ich mußte etwas zu häufig Kettlys Lied hören, aber daran hatte ich mich gewöhnt; wir waren wie zwei Indianer, die zusammengetroffen sind, um einander umzubringen, und bis dahin einander nicht aus den Augen lassen.

Ich fragte nicht mehr nach meiner Zeichnung, wozu denn? Und er kam nicht mehr auf seine Weigerung zurück; doch sobald einer von uns den anderen befriedet oder besiegt glaubte, rief ihn augenblicklich ein grausames Wort mit dreifachem ironischen Boden wieder in die Wirklichkeit zurück, und so lebten wir unter dem Zeichen eines schrecklichen bewaffneten Friedens.

Wer versieht sich des Ausgangs solcher Sachen? Eines Tages nahm Daumier unter meinen Augen, ohne Vorbereitung, ohne Übergang, ohne Aufforderung, ohne Anlaß einen vollkommen glatten, sauberen Stock; und innerhalb einer Stunde, während ich schwieg, stummer als ein Karpfen blieb, mich ganz klein machte, – improvisierte er, zeichnete er mit unerhörter Verve die Vignette des Corsaire, ein vollkommenes Meister­werk. O, da durfte man wohl vom Ei des Columbus sprechen, denn die flüchtige, unmögliche, unauffindbare Idee, er hatte sie gefunden, ergriffen, und ich erbleichte vor Bewunderung. Im Vordergrund sah man Robert Macaire-Figuren, Anwälte, pflichtvergessene Richter, Jongleure, Freudenmädchen, chimärische Generale fallen wie zerschmetterte, entzweigehauene, erschlagene Marionetten; und in der Ferne, auf ruhigem Meer, in einer Rauchwolke, sah man ganz klein den Zweimaster, von dem der rächende Kanonenschuß ausgegangen war, der allen diesen Harlekinen den Garaus gemacht hatte. Ich warf mich an den Hals meines Feindes, küßte ihn aus Leibeskräften und entfloh wie auf Flügeln mit meinem Schatz, glücklicher als wenn ich einen Goldbarren gewonnen hätte, und wie ein Pfeil bebend auf sein Ziel zufliegt, so erreichte ich mit rotem Gesicht, keuchend und wie toll vor Freude die Redaktion des Corsaire.

So, sagte ich zu Monsieur Virmaître und hielt ihm das Holz vor Augen.

So, meinte er, es ist scheußlich, ganz nichtssagend. Mir war der Seeräuber mit der großen Feder viel lieber, dessen Schiff aus allen Luken Feuer speit! Dieses Ding werde ich nicht verwenden.

Meine Freunde in der Redaktion fanden die Zeichnung herrlich und protestierten – vergebens, die Sache war entschieden. Ich, bleich vor Enttäuschung, Demütigung und Wut, sagte meinem Chefredakteur:

Wenn Ihnen die Zeichnung mißfällt, überlassen Sie sie mir, ich werde sie aus meiner Tasche bezahlen und behalte sie für mich.

Auf keinen Fall, versetzte Monsieur Virmaître kühl, ich habe sie bestellt, ich nehme und bezahle sie.

Und er gab mir die versprochenen hundert Francs und schloß die Zeichnung in eine Schublade. Ich sollte sie nie wiedersehen, sie erschien weder im Corsaire noch anderswo; wer weiß, was aus dem armen, bezaubernden Meisterwerk geworden ist? Man kann sich vorstellen, wie ich mich bei Daumier entschuldigte, als ich ihm die lächerliche Summe überbrachte; aber er in seiner unwandelbaren, göttlichen Güte meinte:

Wie! Sie wundern sich noch über solche Dinge? Aber mein lieber Herr Dichter, um unter allen Umständen allen zu gefallen, müßte man doch ein Musikautomat, ein Zuckerhut oder eine Wachsfigur sein!

Daumier hatte auf der Ile Saint-Louis, am Quai d’Anjou eine bescheidene Wohnung gemietet. Der ausgedehnte Dachboden darüber besaß in den Augen des Hauseigentümers keinen Wert, denn in jenem verlassenen vornehmen Viertel galt Raum damals für nichts. Der Künstler hatte diesen Dach­boden nur ausmauern und im Dach ein breites Fenster einsetzen lassen müssen, um ihn in ein herrliches, großzügiges Atelier zu verwandeln, das er durch eine elegante, zierliche Wendeltreppe mit seiner Wohnung verbunden hatte. Diese Veränderung hatte den Eigentümer verblüfft, der sich übertölpelt fühlte wie ein Teufel, der gutes bares Gold anstatt welker Blätter hergegeben hätte! Aus diesem Raum, dessen Existenz ihm nicht zu Bewußtsein gekommen war und in dem er den Künstler jetzt prächtig eingerichtet sah, so gar keinen Gewinn ziehen zu sollen, daran konnte er sich nicht gewöhnen. Leider war der Mietvertrag ganz korrekt! Aber der Unglückliche vermochte sich nicht dreinzufinden; von Zeit zu Zeit, sehr oft, stieg er die Treppe zu Daumier herauf, kratzte sich den Kopf und meinte sanft einschmeichelnd:

Also, Sie würden sich nicht mit einer kleinen Erhöhung des Mietzinses einverstanden erklären?

Nein, antwortete der Künstler noch sanfter, ich möchte lieber nicht.

[…]

Wenn ich daran zurückdenke, steht mir immer jenes Atelier auf der Ile Saint-Louis vor Augen. Unmöglich, sich einen weniger luxuriösen, kargeren Ort vorzustellen; Nippsachen waren daraus sorgfältig verbannt. Auf den mit Ölfarbe in hellem, zartem Grau gestrichenen Wänden hing nichts, außer einer ungerahmten Lithographie nach Préaults „Parias“, jener berühmten Skulptur, die zur Zeit der ersten Schlachten um die Romantik von der Jury des Salon zurückgewiesen worden war. Ein quadratischer schwarzeiserner Ofen, einige Stühle; an die Wand gelehnt Mappen voller Zeichnungen, so berstend voll, daß sie sich nicht mehr schlossen – mehr sah man nicht in dieser heiteren, hellen Werkstatt, außer dem kleinen Tisch, an dem Daumier an seinen Steinen arbeitete; und dabei fehlten auf diesem Tisch die notwendigsten Dinge, vor allem die Lithokreiden; der Künstler besaß keine und wollte keine haben, das stand für ihn fest. Er wußte, daß die launische Eingebung sich überall gern einstellt, außer dort, wo sie laut Reglement erwartet wird; und meinte zu Recht: sobald man alles sorgfältig um sich versammelt hat, was zum Zeichnen benötigt wird, die ganze verheißungsvolle Skala der Gerätschaften, da, genau da höre man auf zu arbeiten.

Und darum besaß er nichts! Er zeichnete stets mit den Überresten immer derselben alten Stifte, die er erst neu pressen ließ, wenn es nicht mehr zu vermeiden war; doch meist mußten Stummelchen widerwillig auferstehen, die nicht einmal mehr gespitzt werden konnten, so daß man irgendeinen Winkel finden mußte, der der fiebrigen Laune der lebhaften Hand gehorchte, einen Winkel, tausendmal wandlungsfähiger und intelligenter als jene stupide Vollkommenheit, die das Messer erzeugt und die im Feuer des Komponierens bricht oder zerdrückt wird. Dieser Gewohnheit, solche Schnipsel, solche Krümel zu verwenden, Stummel, die vergebens um Gnade flehten, würde ich etwas von der Breite und Kühnheit seiner Zeichnung zuschreiben wollen, die den kräftigen, lebendigen Strich aus demselben Stoff gewinnt wie die Schatten und Strichlagen, – wüßte ich nicht, daß sich solche Wirkungen nicht aus so geringer Ursache erklären lassen.

Dieser große Zeichner besaß die Gabe des entfesselten Lebens; er war es, der als erster die Natur, die materiellen Dinge von ihrer Gleichgültigkeit erlöste und ihnen ihre Rolle zuwies in seiner Menschlichen Komödie, in der bisweilen die Bäume die Lächerlichkeit ihres Besitzers annehmen und mitten in einer Eheszene Bronzefiguren auf einem Tisch mit ironischem Grimm zu knarren beginnen. Im Haus der Amme ist ein Kleinkind als Päckchen an einen Nagel aufgehängt, während im entfernten Dorf die Amme einen zügellosen, wilden Bauerntanz aufführt. Oder ein Elender ertrinkt unter einer Brücke, während ein kleiner Angler, steif wie ein I, den Arm ausstreckt mit einer Ruhe, die schreckenerregender ist als der Zorn des Achill. Das Tanzen und Angeln dieser beiden Verkörperungen des menschlichen Egoismus faßt die ganze Raserei zusammen, die wir Sterblichen seit alters in der Ausübung solcher Tätigkeiten verschwendet haben: darin erkennen wir das unnachahmliche epische Genie!

Übersetzung: Claude Keisch

Porträt: Théodore de Banville, Foto: Nadar [Public domain], via Wikimedia Commons

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