von J. Meier Graefe
Manches Wort, das vor kurzem über Lessing zu seinem Jubiläum gesagt wurde, über seine Stellung zwischen Dichter und Schriftsteller und zumal über seine Gesinnung liesse sich zum Jubiläum Daumiers wiederholen. Daumier blieb von offizieller Kritik verschont. Er lebte noch dürftiger, einer der ersten grossen Hungerer der Epoche. Er ist langsam, ganz langsam, nicht von oben, sondern von unten, von Leuten seinesgleichen, von Künstlern „gemacht“ worden. Die beste Darstellung seiner Kunst stammt von einem Maler, übrigens einem Deutschen, Erich Klossowski. Es braucht kein Zufall zu sein, dass die Bilder dieses einsamen Biographen bisher das Schicksal seines Helden, solange er lebte, teilen: zu warten, bis es später wird.
Daumier war Nachkomme einer Revolution. Er trug das Erbe wie eine kaum verdeckte Waffe, jeden Augenblick zu Stoss und Stich bereit, und trug sie wie eine Last, unter der er ächzte und zuweilen nahe daran war, zusammenzubrechen. Die Revolution hat, bevor sie ausbrach und während sie dauerte, Dichter und Philosophen, keinen Künstler hervorgebracht. Den Alten aus dem Dix-huitième half das Trägheitsmoment weiter, und es sah oft komisch genug aus, wie sie sich umzustellen suchten. Die Jüngeren aber nahmen den Umsturz wie eine vom Himmel gekommene und jedenfalls indiskutable Schickung. David brachte sofort einen neuen Stil, der nichts von Schäferspielen hatte, aber noch um vieles konservativer war. Er und seine Schüler werden von der kriegerischen Epoche getragen und bekennen sich begeistert zu ihr. Delacroix sublimiert den Enthusiasmus und schafft eine universelle Tradition. Wenn man überhaupt etwas von Revolution in ihm finden will, ist es die unerbittliche Feindschaft gegen alle phrasenhafte Profanierung der Kunst, der Kampf für die Freiheit und die Forderung einer fast übermenschlichen Verantwortung. Nur ein Aristokrat der mit seiner Rasse neben hohen Rechten höchste Pflicht übernimmt, kann genügen. Die Monarchie, nicht diese oder jene. sondern die monarchische Idee hat keinen edleren Repräsentanten gefunden.
Erst Daumier, zehn Jahre jünger als Delacroix, dem er vieles verdankt, mehr als ein halbes Jahrhundert jünger als David, mit dem er kaum noch etwas gemein hat, führt den dritten Stand in die Kunst ein und bringt die Revolution, nicht diese oder jene, sondern den revolutionären Geist, der die bestehende Ordnung hasst und nicht leben kann, ohne sie zu bekämpfen. Er sieht revolutionär. Sein Auge ist so eingerichtet, an allen menschlichen Begebenheiten — und andere Motive existieren für ihn nicht — das dem bürgerlichen Instinkt Feindliche, das zum Aufruhr reizt, zu erwischen. Er braucht gar nicht zu wissen, was der Spiesser, der ins Bett steigt, seiner Gattin zuruft, was der Minister gerade anrichtet, was Louis Philippe verbricht. Die Beine des Spiessers, die raffenden Pfoten des Ministers, der Bauch des Königs genügen zur Entzündung einer Dialektik von diabolischer Eindringlichkeit. Er liest aus den Augenhöhlen, aus den Kiefern eine Graphologie für alle Kategorien der Gesellschaft. Alle bekommen ihr Teil im „Charivari“, dem gefürchteten Witzblatt. Man sperrt ihn ein halbes Jahr ein. Merkwürdig genug, dass sie ihn nicht dauernd im Kasten hielten. Nachher ist es wie vorher. Er kann nicht anders, denn er sieht nicht anders, und wie er sie sieht, so sind diese menschlichen Kategorien, wenn es einem einfällt, ihre Gebärden zu projezieren. So grinst ihr Lächeln, so brüllen sie, wenn sie tuscheln und wispern, so wetzen sie streichelnd die Raubtierkrallen. Er hat das Auge. Es wäre imstande, im friedlichen Verein weidender Lämmer den Haken zu finden und selbst in der Landschaft, wenn er je Landschaften gemalt hätte, die Groteske aufzudecken. Er genoss die Equilibristik des Advokaten in der Toga, dem der Adamsapfel aus der Gurgel, die Augen aus den Höhlen springen, die Glieder sich vom Leibe reissen, und der dabei, wir fühlen es, nur sein Metier betreibt, fähig, die nächste Minute gelassen abzubrechen und lächelnd — o welches Lächeln! — das Aktenbündel zu schnüren. Ueberall werden gegenwärtig auf den Theatern Verbrecherstücke gespielt. In Berlin wendet sich eins der erfolgreichsten gegen die Unzulänglichkeit der Richter. In der Theaterreklame wurde man aufgefordert, an Daumiers Agitation gegen die Leute in der Toga zu denken. Das war unvorsichtig. Begabte Schauspieler, geführt von geschickter Regie, brachten alle möglichen Geschichten vor und spielten so glänzend, dass man vergass, sich zu der Tendenz des Stückes zu stellen und nur dem Hin und Her der Kämpfer folgte. Grossartiges Theater, nur darf man nicht an Daumier denken. Wie unwesentlich erscheint neben den heroischen Gestalten seiner Schaubühne die Kompilation moderner Dichtung, die aus zehn sozialen Schichten zehn Laster zusammenholt und vor zehn Gerichte bringt. Mit Häufung wird nichts bewiesen. Aus dem Haufen knetet Daumier eine Gestalt, und die einzige Gebärde sagt alles. Die Tendenz, die man in der Theaterdichtung nicht schnell genug vergessen kann, bleibt in der Riesenschrift des Graphikers unauslöschliche Mahnung. Aufpassen! nicht die Lächerlichkeit des Ganzen vergessen! — Die Mahnung stachelt heute wie damals, hat eher noch an Schärfe gewonnen, denn so lange und noch viel Länger bewährt sich die Skepsis. Man fragt sich, ob es vor Daumier in der bildenden Kunst eine skeptisch zu nennende Diktion gegeben hat, ob wir uns ohne ihn geformte Verneinung, Skepsis mit Grösse, vor stellen könnten. Millet löste sich auf vor Rührung und war gleich bereit, alles zu vergeben und zu vergessen, wenn man nur zusehen wollte, wie schlecht es ihm ging und wie verlassen er sich fühlte. Man hat eine Zeitlang die beiden für Verwandte genommen, die sich nur durch ihre Lokale, Stadt und Land, unterschieden. Daumier in seiner Dachkammer fühlt sich nicht allein. Das Brausen der Strasse ist seine Resonanz. Ein Chorus lacht mit ihm über das Schicksal, und je dicker es kommt, desto tiefer höhlt er die Form, desto unerbittlicher steht die Linie vor dem Horizont, desto stärker braust der Dithyrambus. — „Durch Sie
spricht das Volk zum Volke! —“ ruft ihm Michelet zu. Er hat die Linie, wie Hogarth die seine hatte. Die Hogarthsche wand sich wie ein gewitztes Schlänglein flink durch die Bilder; die Daumiersche hat vom Nacken des Stiers. Er wusste, was er hatte. Er hatte die Linie, wie andere Fleisch und Brot und eine Anstellung im Bureau haben. Er ergötzte sich daran wie ein Liebhaber an seinen Juwelen, vielleicht auch wie der Erfinder der Bombe an dem Gedanken, was sie anzurichten imstande sein könnte.Die Linie wurde der Beruf des Lithographen, der täglich für einen Sündenlohn seinen Witz auf den Stein zu bringen halte. Manchmal spuckte er ihn hin, und oft, sehr oft trat zu dem unerschrockenen Zeichner ein für die Materie entbrannter Maler, der aus den engen Stufen zwischen dem Weiss des Papiers und der Druckerschwärze erstaunlich zarte Töne gewann und sie um die rauhe Legende spielen liess. Zwischendurch fertigte er zu seiner Erholung Tuschzeichnungen, die den aktuellen Witz ganz beiseite liessen und um so bedeutender wirkten. Ueber den Kreis der Künstler drangen sie kaum hinaus. Daumier verkaufte sie für fünfzig Francs das Stück. Die schönsten hängen heute in der Sammlung Gerstenberg in Berlin.
1845, mit vierzig Jahren, beschliesst er, Maler zu werden, und der junge Courbet bestürmt ihn, sich an der Konkurrenz für das Bild der Republik zu beteiligen. Nur er sei dessen fähig. Daumier macht seine Steine nachts, um tagsüber an der Staffelei zu bleiben, und erscheint 1849 zum ersten Mal im Salon, selbstverständlich erfolglos. Der Maler hat nichts, was die Oeffentlichkeit anziehen könnte. Für die Akademiker ist er ein steckengebliebener Dilettant, der bei seinen Steinen bleiben sollte, ein Journalist, der nicht in den hohen Bereich der Malerei gehört. Künstler denken anders. Eines Tages wird ihr Grösster ihm schreiben, es gebe keinen unter den Lebenden, den er höher stelle. Der Maler Daumier erscheint wie ein in die Fremde verschlagener Bruder Delacroix‘, und zwar eher als der ältere, da er der modernen Koloristik fern und der sonoren Tiefe Rembrandts näher bleibt. Auch er hat seine Dichter, nur steht er anders zu ihnen. Wenn sich Delacroix vom Bildhaften der Szene bestimmen lässt, folgt Daumier psychologischen Anlässen. Er will sich mit der Mentalität des Dichters eins fühlen können.
Es müssen Protestler sein wie Molière und Cervantes. Auch der Held der heiligen Schrift gehört dazu. Mit ihrer Hilfe überträgt er die revolutionäre Sendung auf eine in der Lithographie nicht geahnte Sphäre, und dabei wird oft die Dichtung mit einer Vollständigkeit absorbiert, die der Verdrängung gleichkommt. Sein Malade Imaginaire steigert Molière in ähnlichem Umfang wie der Grossinquisitor Dostojewskis die Gestalt im Drama Schillers. Man könnte fast die paradoxe Behauptung wagen, dass für Menschen der Gegenwart der Roman des Cervantes nur noch in der Daumierschen Fassung gelesen wird. Don Quichote und Sancho Pansa, wie er sie geschrieben hat, der lange Dünne und kurze Dicke zwischen den kahlen Bergen, sind Wappenbilder geworden.
1860 beging er die Tollheit, seine Stellung am Charivari aufzugeben, um nur noch zu malen. Damit trug er sich das Elend ins Haus und malte seine herrlichsten Bilder, darunter die „Emeute“, das Christusbild „Ecce homo“ und vor allem „Das Drama“, dieses Bild der Bilder mit den gereckten Rücken und Köpfen der Zuschauer auf der Galerie, die ein Spiel für sei sind, und der Mordszene auf der fernen Bühne. Dazu viele Interieurs kleinen Formats aus der Welt der Sammler und Liebhaber. Dem harmlosesten Motiv gibt er gesteigerte Bedeutung. Die gespenstischen Hagestolzen, die eine Mappe durchblättern oder sich in die Betrachtung eines Bildes verlieren, scheinen nicht dem Schönen, sondern einem dunklen Schicksal verfallen, um nicht zu sagen, einem Laster, das die Wirklichkeit scheut.
Baudelaire erzählte einmal Delacroix, welche Mühen Daumier habe, um ein Bild zu Ende zu bringen. Das hatte äußere Gründe, die auf der Hand liegen, und innere, die auch ohne die harte Not bestimmend geblieben wären. Man könnte an Dostojewski denken, den die komplizierte Psychologie zu verworrener Formen zwang, aber nichts wäre verkehrter, als Daumier Verzichte zuzutrauen, wegen denen sich der Russe kein Gewisser machte. Der tritte Stand sollte es nicht schlechter haben als die anderen. Daumier hielt auf unbedingt durchsichtige zeichnerische Struktur, duldete so wenig wie Delacroix Unterstützung des malerischen Ausdrucks durch die billigen Zufälle der Fleckenwirkung, war eher Klassiker der Form und stand der Antike naher als Delacroix. Eben die Strenge seines Barocks erschwerte ihm die Durchführung des Bildes, da er die freskenhafte Linie nicht durch Details hemmen wollte. Seine Form brachte einen seiner Kameraden dahin, beim Anblick des jüngsten Gerichts Michelangelos in der Sixtina auszurufen; Tiens Daumier! Das Alter wurde immer härter. Er erblindete. Ohne Corot der ihm das Häuschen schenkte, wäre er verhungert. Am 11. Februar 1870 ist er gestorben.
