Das Pariser Musikleben

Das Pariser Musikleben im Spiegel von Daumier

Wie sah das Pariser Musikleben der Daumier-Zeit aus?

Die Revolution von 1789 hinterließ auch auf musikalischem Gebiet mit dem Zug zur Popularisierung und ins Massenhafte lange nachwirkende, tiefe Spuren. Der einfache Stil und die hohe Bedeutung, die bei den zahlreichen nachrevolutionären Volksfesten der vokalen und instrumentalen Musik auf dem Champ de Mars zugestanden wurde, wirkten in der französischen Musik bis Mitte des 19. Jahrhunderts nach.

Die L´Opera, rangerstes Musiktheater Frankreichs, musste infolge von Bränden und politischen Wirren häufig Namen und Domizil wechseln, bis es 1875 im Palais Garnier für lange Zeit seine Bleibe fand. Über die berühmten Direktoren, Dirigenten, Sänger und Tänzer, die an der L´Opera wirkten, möge sich der Leser an anderer Stelle informieren. Neben diesem führenden Haus bestand seit 18o1 das Theatre de l´opera Comique, der es ähnlich erging und für die ebenfalls der obige Hinweis gelten soll. Abgesehen von politisch bedingten Gelegenheitswerken beherrschten die französische Revolutionsoper, Opern G.Spontinis (1774 – 1851) und später G. Meyerbeers (1791 – 1864), die Opern der französischen und deutschen Romantik, die Grand Opéra, die Opéra comique Meyerbeers, die große historische Oper J.F. Halévys (1799 – 1862) und die Opéra buffa die Spielpläne. Historische Stoffe und der Charakter der Schauoper überwogen, wobei die Opern traditionell immer wieder voller politisch aktueller Bezüge waren und der Sänger-Virtuosenkult sich oft auf Kosten der künstlerisch musikalischen Qualität ausbreiten konnte. Eine Reihe von Musikernamen möge, über die bereits genannten hinaus, das Gewicht der Opernereignisse andeuten: Rossini, Mozart, Bellini, Auber, Gounod, Liszt, Weber, Berlioz, Bizet, Massenet, Delibes, Wagner, Mehul, Herold, Adam …. Dabei bemächtigte sich der Opernpraxis eine romantische Tendenz zur wechselseitigen Öffnung der Künste.

Der Bürgerkönig Louis Philipp führte 1831 staatliche Leitung und Subventionierung der führenden Häuser ein, wodurch eine gewisse Qualitätssteigerung erzielt wurde. Die öffentlichen Pariser Musikbühnen besaßen kein Monopol, vielmehr bestanden neben ihnen eine Reihe konkurrierender Musiktheater, von denen vor allem das Théatre – Italien hervorzuheben ist: Es führte die ernsten Opern G. Rossinis (1792 – 1868) zum Erfolg, der Komponist selbst wurde 1824 der Leiter dieses Hauses. Erwähnenswert sind weiter das Théatre de l´Odeon und das Théatre lyrique, welches sehr mit den beiden Hauptopernhäusern rivalisierte. Daneben gab es auch etliche Häuser, die sich auf die leichtere Muse spezialisierten wie Opera buffa, Operetten und Vaudevilles. Das musikkünstlerische Niveau ließ dabei mitunter zu wünschen übrig, was auch für die Musik der Sommermonate in den vielen öffentlichen Gärten gilt. Viele Varietés, Kabarette und Konzertcafés, die in der Daumier-Zeit zu entstehen begannen, runden das öffentliche Musikbild von Paris ab.

Anders lagen die Dinge beim Konzertwesen im allgemeinen. Mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts waren die Musikdarbietungen von Ensembles mehr und mehr öffentlich zugänglich geworden, wurden auch vom erstarkenden Bürgertum in wachsendem Maße als Wert an sich geschätzt. Zwischen 181o und 183o wurden so öffentliche Konzertaufführungen üblich d.h. als Veranstaltungen gegen Entgelt, zu denen sich jedermann durch Kauf einer Karte Eintritt schaffen konnte. Die hohe Wertschätzung der (Konzert-)Musik als erhebend, sittlich bildend oder auch nur tröstend und unterhaltend, sowie ihr Verständnis als Medium klassischer und aufklärerischer Ideen führten dazu, dass etwa 183o die Demokratisierung der Musik abgeschlossen war und sich die Musik als Bildungsgut im Besitz des Bürgertums befand.

Dies wurde möglich durch einige parallel laufende, sich wechselseitig beeinflussende Tendenzen. Einmal hatte sich ein Musikmarkt herausgebildet, die Komponisten – Produzenten stießen auf ein wachsendes Musikinteresse der Hörer – Konsumenten in der Bevölkerung, vor allem in der Finanzbourgeoisie und im Besitzbürgertum. Der einsetzende Wettbewerb führte außerdem zur Professionalisierung von Berufsmusikern , die die Liebhaberorchester mehr und mehr verdrängten und im genialen Solistenfall zu berühmten Virtuosen aufstiegen. Demgemäß wandten sich die Liebhaber und Dilettanten der Haus- und Kammermusik, Gesangsvereinen, Amateurorchestern und der privaten Musikausübung vor allem am Klavier zu. Außerdem entstand mit den Konzertagenten, Sekretären der Virtuosen eine neue Berufssparte, Musikmanager würden wir heute sagen, die Anbahnung, Terminierung, Organisation, Verkauf, Durchführung und Abwicklung der Konzerte betrieben. Aus den genannten Impulsen bekamen die Konzertprogramme allmählich einen konzeptionellen Charakter und entwickelten sich weg vom gemischten Allerlei älterer Musikdarbietungen. Das Konzertpublikum war zwar durch alle Schichten ohne Standesunterschiede gleichberechtigt, wahrgenommen aber wurden die Orchesterkonzerte ganz überwiegend vom gutsituierten wohlhabenden (Bildungs-) Bürgertum. Begleitet wurden alle diese Tendenzen von einer zunehmenden sozialen Differenzierung der Musik- und Konzertlandschaft ab 183o dahingehend, dass das Kleinbürgertum der mittleren und unteren Schichten sich verstärkt zur aufkommenden trivialeren Unterhaltungsmusik hin orientierte.

Wie war nun die Situation in Paris? Verschiedene Orchester hatten durch die Revolution von 1789 so andauernden Schaden erlitten, dass erst 1828 die Tradition der großen öffentlichen Konzerte aufgenommen werden konnte. Die namhaftesten Orchester zur Zeit Daumiers sind die Societé des Concerts du Conservatoire und die Societé des jeunes artistes du Conservatoire gewesen, von denen die erste

Beethoven, Mozart, Weber, Méhul, Gluck, Mendelssohn in ihren Programmen spielte. Im Wettstreit der großen Pariser Kirchen entwickelte sich während des 19. Jahrhunderts die romantische französische Orgelmusik. Auch der Chorgesang erfuhr um die Mitte des Jahrhunderts einen lebhaften Aufschwung in Gesangvereinen, wofür die Impulse ab 182o auf den Kirchenchor Céciliens und mehr noch auf den ab 1835 wirkenden Männergesangverein Orphéon zurückgingen.

Die Vorherrschaft des Musiktheaters wurde etwa ab 1825 durch einen Umschwung gebrochen, der in privaten Zirkeln und Salons seinen Anfang nahm. Nachdem Franz Liszt (1811 – 1886) erstmals 1824 und Frederic Chopin (181o – 1849) 1832 aufgetreten waren, begann für Paris die große Zeit der Solistenkonzerte und eines wahren Musiktaumels. Paris rückte zur wichtigsten Stätte der romantischen Musik auf, in der viele Virtuosen in privaten Salons und öffentlich in Konzerten um die Publikumsgunst kämpften; Namen wie C. Sivori, J.Schad, H. Herz, L.M. Gottschalk, J. Lind, H. Berlioz, H. Levi gehören in diesen Zusammenhang. Besonders drängten sich die Hörer zu den Musiksoireen, welche die beiden Musikzeitschriftenverlage – France musicale und Gazette musicale – veranstalteten, um die Großen ihres Faches: N. Paganini, H. Vieuxtemps, S ykesewk. Thalberg, F. Chopin, F. Liszt, F. Kalkbrenner und andere zu hören. Durch solche Anstöße eroberte sich besonders das Klavier in seinem Siegeszug weiteste Kreise in solchem Ausmaß, dass H. Heine seine Allgegenwart bissig kommentierte.

Für den Musikunterricht war das Conservatoire National de Musique die einzige öffentliche Einrichtung, aber neben ihm gab es zahlreiche private Institutionen, von denen die Ecole de Chant seit 1817( später, 1826 – 1848 Ecole de musique religieuse) die bekannteste war. Paris war im 19. Jahrhundert auch ein musikwissenschaftliches Zentrum, in dem die musikhistorischen Forschungen und Musikphilosophie eine besondere Rolle spielten. Viele bekannte Musikverlage waren im 19. Jahrhundert in Paris beheimatet, von denen für die Daumier – Zeit die Gebrüder Escudier und Schlesinger als Verleger erwähnenswert sind. Wie war es um die Haus- und Kammermusik bestellt? Starken Auftrieb erhielt sie durch den hohen Rang, welcher der Musik innerhalb der romantischen Kunstauffassung(en) zukam. Das biedermeierliche Selbst- und Lebensverständnis beförderte die Ausbreitung der Musik in die Privatspäre weiter Bevölkerungskreise, sei es als erzieherisches Bildungsanliegen, als Bildung des Gemütes und des Geschmacks oder sei es als feierlicher Akt privater Erbauung, zumal die Musikliebhaber und -laien durch die fortschreitende Professionalisierung im öffentlichen Musikbereich immer mehr in ein privates idyllisches Musikrefugium abgedrängt wurden. Zugleich ermöglichte es die einsetzende Wohlstandsentwicklung besonders in Frankreich mehr und mehr Menschen, sich in der Mußezeit der Musik zu widmen. Bedenkt man, dass Klaviere durch Serienfabrikation in erschwinglicher (Klein-)Form zu kaufen waren, als ein mädchengerechtes Instrument und für höhere Töchter als halbe Aussteuer oder zumindest als dekoratives, Ansehen förderndes Möbelstück angesehen wurden, so werden Siegeszug und allgegenwärtige Verbreitung des Klaviers verständlich. Gleichzeitig mit der Ausbreitung der Musik vollzog sich eine Differenzierung im Gesellschaftlichen: Während in den Palais und Salons einer neureichen Geldaristokratie, – man denke an das „Enrichissez vous!“, das Minister Guizot als Parole ausgab – , die trendsetzenden Klavier – Musikidole einerseits ihre erlesene sentimentalistisch sensualistische Musik zelebrierten, breitete sich in den Wohnstuben und -zimmern der normalen (Klein-)Bürger ein trivialer Musikgeschmack aus. So gab es auf der einen Seite ein dem Ambiente angepasstes Repertoire von effektvollen Bravourstücken, brillianten Opernparaphrasen, Modetänzen, Humoresken , Romanzen und Charakterstücken, auf der anderen Seite begnügte man sich mit Favorites, Potpourris, zwei- und vierhändigen Symphonie- und Operntransskriptionen und -arrangements. Der massenhafte Bedarf wurde prompt von vielschreibenden Tonsetzern, geschickten Arrangeuren und Musikverlegern bedient, sodass in unübersehbarer Zahl ein nicht virtuoses, leicht spielbares Repertoire, eben Musik als Massenware entstand. Eine weitere Folge des massenhaften bürgerlichen Musikinteresses ließ im Opern- und Konzertwesen ein im besten Falle denkend genießendes Publikum mit Kennerschaft entstehen, führte auf Seiten der Akteure aber auch mit sangesfreudigen Bürgern zum Entstehen von Gesangsvereinen.

Am ehesten konnte sich Quartett- und Triospiel, ausgeübt durch Enthusiasten, noch in den Gefilden hoher Kunst halten, bis auch hier eine gewisse Trivialisierung mit vereinfachter Literatur, Ton- und Spielstücken sowie Sammlungen in die Haus- und Kammermusikpraxis eindrang und das wirklich anspruchsvolle, professionelle Quartett-und Triospiel ebenso wie das Kunstlied das Podium öffentlichen Konzertwesens eroberte.

Das Lithographie-Werk Daumiers umfasst rund 4ooo Blätter, von denen einzelne Serien wie „Musiciens“ de Paris (1841/1843) mit 6 Blättern, „Croquis musicaux“ (1852) mit 17 Blättern und „Etudes musicales“ (1865) mit 5 Blättern ganz der Musik gewidmet sind; „croquis“ meint dabei so viel wie Einfälle, Splitter oder Spitzen.

Parade du Charivari (1839)
Parade du Charivari (11839)

Darüber hinaus spielt die Musik in sehr vielen anderen Serien und Einzelblättern eine mal gewichtigere, mal weniger bedeutende Rolle. Die überwiegende Anzahl dieser Lithographien behandelt Sujets der Haus- und Salonmusik und ist im Milieu des Besitz- und Kleinbürgertums

angesiedelt, in dem oft der Raum Salon genannt wurde, den wir heute Wohnzimmer nennen. Die Bildtexte stammen nicht von Daumier sondern (meist) wohl von Charles Philipon, dem Verleger des „Charivari“ und von „La Caricature“. Sinngemäß soll Daumier gesagt haben: Wenn meine Blätter des Textes bedürfen, um verstanden zu werden, so sind sie schlecht, sind sie aber gut, so sprechen sie unmittelbar und bedürfen des Texts nicht.

Trotzdem sind für den heutigen Betrachter der Graphiken einige hermeneutische Hinweise nicht verfehlt, die die Lithographien in den jeweiligen politischen, musikgeschichtlichen und soziologischen Zusammenhang einordnen.

Vorangestellt sei den Kommentaren zu den musikbezogenen Blättern, die fast alle im „Charivari“ publiziert wurden, die Betrachtung einer programmatischen Lithographie, die die Redaktion in eigener Sache als Werbung für diese Zeitschrift von Daumier hat arbeiten lassen (Charivari vom 6. Januar 1839, Delteil Nr. 554). Der „Charivari“ mit seinen Mitarbeitern wird als Charivari – Orchester vor einer Schaubude auf einem Jahrmarkt, – dem Jahrmarkt des Lebens sozusagen -, nach der Art von Bänkelsängern gezeigt, die ja ebenfalls mit ihren Moritaten ganz dem aktuellen Leben verbunden waren. Der Ausrufer ist Charles Philipon der Verleger, die Mitarbeiter sind als Musiker dargestellt mit Daumier als dem Bläser rechts im Bild. Sinn und Hintersinn stellen sich ein, wenn man die Namensgebung der Zeitschrift bedenkt: Das Wort leitet sich vom griechischen Karebaria ( = Kopfschmerz) her, den katzenmusikartiges Konzert, und das meint Charivari!, verursacht. Groteske Serenaden mit untauglichen Instrumenten wie Töpfe, Schellen, Schnarren etc. waren schon im MA in ganz Europa verbreitet, wurden aber in Frankreich seit 1814 dazu benutzt, missliebigen Politikern nächtens respektlos lärmende Ständchen zu bringen.

[Auszug aus „Das Pariser Musikleben im Spiegel von Daumier – Lithographien“, Friedrich W. May]


Noch unverdaulicher als ein Hummeressen ... (1864)
Noch unverdaulicher als ein Hummeressen … (1864)
Die Kammersänger. (1862)
Die Kammersänger. (1862)
Die Strassensänger. (1862)
Die Strassensänger. (1862)
IN MÜNCHEN. (1868)
IN MÜNCHEN. (1868)

Top

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner