Thomas Metzen anlässlich der Ausstellung „Zwei Zeitmaler in Paris“ im Heinrich Heine Institut, Düsseldorf 1998
Zwei Zeitmaler in Paris
Über die Entstehung und Entwicklung des modernen Kunstbegriffs ist viel und oft nachgedacht worden. Die Honoré-Daumier-Gesellschaft stellt in Zusammenarbeit mit dem Heinrich-Heine-Institut zwei Künstler vor, die diese Entwicklung wesentlich mitgeprägt haben. Wir unternehmen nach 150 Jahren den Versuch, die beiden Protagonisten ihrer Zeit in einer Ausstellung gemeinsam vorzustellen. Ein Grund für dieses Vorhaben ist ihre ungebrochene Aktualität – sie sind seit jeher für unser Selbstverständnis von besonderer Wichtigkeit. Vielleicht ist auch erst unsere Zeit in der Lage, diese beiden Grenzgänger der Kunst in einer Zusammenschau sehen zu lernen.
Ein Autodidakt namens Daumier und ein deutscher Schriftsteller im Pariser Exil haben im Laufe der Zeit wenig Beifall, aber oft heftigsten Widerspruch diesseits und jenseits des Rheins hervorgerufen.
Wir gehen heute davon aus, dass Heine einen neuen Sprachstil, Daumier einen neuen Zeichenstil entwickelt hat. Beide arbeiteten im damals modernsten Laboratorium der Zeit, Paris, und stellten in Wort und Bild ein Zeitgemälde her. Sie behandelten Alltag und Epoche, die kleinen wie die großen Gestalten ihrer Zeit, ihre Machenschaften, ihre Träume und ihre verlorenen Illusionen. Beide entwarfen das Projekt einer zukünftigen Gesellschaft, die die Probleme ihrer Zeit lösen wird. Sie sind Pioniere eines versöhnten Europa – Heines „pazifike Mission“ –, der eine im Maleramt, der andere im Sprecheramt. Beide haben ihre Zeit erkennen können; sie stehen am Beginn der künstlerischen Moderne.
Nach 150 Jahren haben wir Abstand von den Ereignissen in Paris gewonnen. Die Ausstellung versucht, diesen Abstand kleiner werden zu lassen. Der Besucher wird überrascht sein, wie gelungen die Bilder zu den Texten passen, gleich, ob man die Texte bebildert oder umgekehrt die Bilder betextet sehen will.
Wir sind uns sehr wohl der Schwierigkeit bewusst, einen Bildermaler mit einem Wortbildner vergleichen zu wollen – zu unterschiedlich sind die beiden Medien. Unsere Sprache sieht dennoch die Gemeinsamkeiten von Wort und Bild: Wir lassen die Bilder zu Wort kommen, wir können Bilder wörtlich nehmen, wir erliegen einer bildhaften Sprache. Bildsprache und Sprachbilder sind Denkbilder. Unsere Ausstellung versucht, dieses Denken anzuregen.
Der französische König Charles X. war im Jahr 1830 unter anderem wegen der Wiedereinführung der Pressezensur gestürzt worden. Die neue Verfassung (Charta) vom Jahre 1830 schrieb die Pressefreiheit wieder fest. Davon profitierten alle politischen Bewegungen der Zeit, auch die Presseorgane der bürgerlich-republikanischen Opposition. Die neue konstitutionelle Monarchie unter Louis Philippe verschloss mit einem sehr engen Wahlzensus der Mehrheit der Franzosen das aktive und passive Wahlrecht (200.000 Wahlberechtigte bei 32.000.000 Bürgern). Zeitungen waren deshalb ein ungemein wichtiges Organ zur politischen Interessenvertretung des Bürgertums. „Bildzeitungen“ waren, weil sie ein zusätzliches und schnell erfassbares Medium zur Schau stellten, ein beliebtes Mittel zur Meinungsbildung.
Die Julimonarchie krankte von Beginn an ungelösten politischen und sozialen Problemen. Zum einen war die Parlamentskammer nach der Revolution nicht aufgelöst, zum anderen das Wahlrecht nicht liberalisiert worden, drittens konnten Richter nicht abgesetzt werden, und nicht zuletzt wurde schon 1831 ein neues Pressegesetz verabschiedet, das Kaution und Stempelsteuer forderte.
Die Benutzung der lithografischen Schnellpresse erlaubte eine rasche Bildreaktion auf bestimmte Ereignisse, die Bildpublizistik verschaffte sich damit einen großen Anteil an der Formierung des bürgerlich-republikanischen Widerstandes gegen die Julimonarchie.
1830 beginnt Charles Philipon eine der wohl berühmtesten satirischen Zeitschriften „La Caricature“ auf den Markt zu bringen. Die Auflage ist niedrig, zwischen 800 und 2.000 Exemplaren, die Herstellung teuer. Der Preis dieser Wochenzeitschrift von 52 FF für das Jahresabonnement war für 90% der Bevölkerung unbezahlbar. Die Leserschaft wird man wohl in einem gebildeten, finanziell abgesicherten und republikanisch gesonnenen Bürgertum suchen müssen. Eine zusätzliche Verbreitung erfuhr die Zeitschrift durch ihre Präsentation im Verlagshaus Aubert und ihre Auslage in den preiswerten Lesekabinetten. Hier wird dann auch Heine auf diese Zeitschrift stoßen und sie in den „Französischen Zuständen“ entsprechend würdigen; übrigens zum hellen Entsetzen Ludwig Börnes, der an diesen „Tabaksblättern“ keinen Gefallen fand.
Heinrich Heine ließ sich bekanntlich und aus wohlverständlichen Gründen in die politischen Zielvorgaben der großen Gruppe der deutschen exilierten Republikaner in Paris nicht einbinden.
Die Lektüre seiner Pariser Prosaschriften zeigt immer wieder die scharfe Kritik an Herrscher, Regierung und Parlament, die bei der Lösung der sozialen Frage, der «großen Suppenfrage», versagen. Im Gegensatz zur Heine-Biografie liegt Honoré Daumiers Lebenslauf weitgehend im Dunkeln. Die Nachrichten sind spärlich und ungewiss, allein seine finanzielle Situation war wohl doch weit besser, als der Künstlermythos ihm zugesteht. Er hat die riesige Menge von 4.000 Lithografien gezeichnet und damit als „Journalist der Zeichenfeder“ seine Zeit wie kein zweiter Maler dieser Epoche in einzigartiger Weise widergespiegelt. Persönlich haben sich Heine und Daumier wohl nicht kennen gelernt, höchstens haben sich Teile ihres Bekanntenkreises überschnitten. Trotz ähnlicher Thematik arbeiteten sie für ein gänzlich unterschiedliches Publikum.
Daumier zeichnete für ein Bildpublikum, das sich zu allererst in Paris fand, schon um deren Bedürfnis nach aktuellen Bildern Genüge zu tun. Heine schrieb vor allem für die „Augsburger Allgemeine Zeitung“ die aktualitätsferneren Hintergrundberichte. Zum anderen gilt es zu bedenken, dass die beiden unterschiedliche Zensurbestimmungen zu beachten hatten, dementsprechende Vorsichtsmaßnahmen ergreifen mussten, aber auch in Bild und Wort spezielle Techniken aufboten, um die Zensurauflagen zu unterlaufen.
Deutliche Unterschiede zeigen die beiden Künstler in der Bewertung von politischen Einzelfragen, so etwa zur Frauenemanzipation, dem Deutschlandbild, der Figur von Napoleon III., der 48er Revolution und einzelnen Regierungsvertretern, besonders Adolphe Thiers. Übereinstimmung herrscht in der Verurteilung der reaktionären Kräfte und der Pairskammer. Beide sind sie einig in der Suche nach der richtigen Zeitdiagnose, der ‘Signatur der Zeit’, wie Heine es formulierte. Beide sind sich einig, dass die Beschreibung des realen Lebens der Ausgangspunkt aller weiterführenden Überlegungen ist.
Beide versuchen, nicht nur in der thematischen Erweiterung, sondern auch in der Benutzung neuer Mal- und Worttechniken den Stillstand der künstlerischen Antworten auf die Zeitumstände zu überwinden. Nicht umsonst klagt Heine über die Armseligkeit der malerischen Bewältigung der Julirevolution.
Jede Zeit verlangt nach dem „aktuellen Ausdruck des Schönen“, sagte Charles Baudelaire. Daumier und Heine haben in ihrer Zeit zu einer Ästhetik der Moderne einen entscheidenden Beitrag geleistet. Wir versuchen, einige Bausteine dieses modernen Kunstbegriffs herauszustellen.
Ein Bild- und Lesepublikum muss das Bildwort bzw. Wortbild lesen können. Die Bildsprache muss mit wiedererkennbaren Symbolen arbeiten. Je komplizierter die Bildsprache ist, umso geringer ist die Chance des Bildkonsumenten auf Entschlüsselung. Deshalb gab Charles Philipon oftmals eine zusätzliche klärende Bildbeschreibung den der Zeitung einliegenden Lithografien bei. Auch Heine konnte nicht damit rechnen, dass seine Leserschaft, die so fern von Paris zu finden war, jede Anspielung verstand. Zusätzliche Probleme wurden durch Zensurbestimmungen aufgeworfen. Die beiden Zeitschreiber konnten ihnen nur durch eine spezielle Zensursprache begegnen. Eher ungefährlich war es hingegen, die Bilder mit entsprechend harmlosen Tiersymbolen zu füllen, sofern man nicht, wie es Daumier tat, König Louis-Philippe als Schwein und damit als Symbol von Unmäßigkeit, Gefräßigkeit und Bestechlichkeit hinstellte. Die Ausstellung zeigt u.a. Louis-Philippe als Papagei, der sich seiner vorgeblichen Heldentaten rühmt. In der steten Wiederholung von zwei Orten militärischer Auseinandersetzung entlarvt sich der vermeintliche Kriegsheld als Schwätzer.
Bestimmte Sachsymbole weisen auf Eigennutz und Bestechlichkeit von Ministern und Parlamentariern hin: der Geldsack der Bestechlichkeit, die Gießkanne des reichlich fließenden Geldes und die Wetterfahne des politischen Opportunismus. Hingegen steht die Schere für die Zensurbestimmungen, der Pflasterstein aber als positives Symbol der Julirevolution, die phrygische Mütze für die gewonnene Freiheit und das Licht der Sonne oder die brennende Kerze weisen ebenfalls auf die verlorene oder wieder zu gewinnende Freiheit hin. Das berühmteste und bekannteste Symbol bleibt zuletzt die Birne für die Person des Bürgerkönigs. Religiöse Symbole werden meist ins Negative verkehrt, so wird die Prozession zum Schandzug, der Auferstehungsmythos zum Ausdruck von Leid und Verzweiflung. Einzelsymbole oder ganze Situationen schöpfen die Bilderzähler aus den Bereichen der Fabel, der Bibel, den Bilderbögen, englischen Karikatur-Vorbildern und aus der Antike. Diese kurze Aufzählung beweist, dass die Zielgruppe der Bildleser Vorkenntnisse haben musste. Das spielerische Umgehen mit dem klassischen Bildungsprogramm und die genaue Kenntnis der aktuellen Situation forderte dem Publikum entsprechende Wiedererkennungsleistungen ab.
Auch Heine, der von der Wirksamkeit seines Sprecheramtes überzeugt war, dachte vorrangig „an die Bekehrung der Höchstgestellten“. Heine glaubte an seine Mission als großes schöpferisches Individuum. Er begriff den Riss, der durch seine Zeit ging, auch als Chance, in seiner Subjektivität Schöpfer einer neuen Kunst zu sein. Er verkündete das Ende der Goethischen Kunstperiode, die Versöhnung von Geist und Materie, eine neue Autonomie des Künstlers in der Gesellschaft. Die neue Kunst hat nach Heine „intellektuell, parteiergreifend, unversöhnlich“ zu sein. Der Künstler selbst versteht sich als Supernaturalist: Er ist in der Lage, die Signaturen der Zeit als Besitzer der ihm eingeborenen Ideen hervorzubringen. Er überwindet damit die bloße Beschreibung seiner Zeit und läuft nicht Gefahr, mit der Beschreibung und einem bestimmten politischen Programm zum Tendenzkünstler herabzusinken.
Das Paris ihrer Zeit erleben Heine, Daumier und ihre Zeitgenossen auch in der zunehmenden kognitiven Schwierigkeit, ihre Wahrnehmungen der neuen Geschwindigkeitserfahrung anzupassen. Das nächtliche Licht und die neue Erfahrung des Reisens mit der Eisenbahn lösen optische Reize aus, die einem veränderten künstlerischen Wahrnehmungsverfahren Rechnung tragen müssen. Heine zieht Zeitereignisse entweder auseinander oder zusammen, und sprengt den herkömmlichen Kanon der fortlaufenden Erzählung durch Parallelisierung von Einfall und Reflexion. Daumier löst sich in den 60er Jahren endgültig von der früheren Monumentalität seines Zeichenstils und fängt an, die Zeit zu malen. Er ist damit wie Heine in doppelter Bedeutung ein Zeitmaler. Die in Bewegung gekommene Gesellschaft fordert vom Maler eine neue Linienführung. Das alte Problem des Gegensatzes von Erzählung und Zeichnung, Zeitlauf und Augenblick wird als lösbar betrachtet. Daumier malt die Bewegung und gleichzeitig die Gegenbewegung, die Aktion und die Reaktion. Das sich bewegende Haar zittert nach, die flatternde Robe des Anwalts will nicht zur Ruhe kommen. Er malt ein Liniengespinst, das den gesamten Ablauf der Bewegung schildert, das Bild durchbricht den Zeitstillstand. Tonwerte ersetzen den verharrenden Umriss. Daumier löst das ein, was die Gebrüder Goncourt 1867 von einem modernen Maler forderten. „Es gilt eine Linie zu finden, die das Leben präzise wiedergibt, die aus nächster Nähe das Individuelle, Charakteristische erfasst – eine lebendige, menschliche innere Linie, eine Zeichnung, die wahrer ist als jede Zeichnung.“
Heine und Daumier erwandern ihr Paris, als Flaneure sind sie die Bewohner der Boulevards. Die zahllosen kleinen Gesten, die unmittelbaren Momentaufnahmen, die wie eine Daguerreotypie von Paris erscheinen, sind Folge dieses täglichen Anschauungsunterrichts. Der schnell gezeichnete Einfall sieht das Schöne und das Hässliche, das Groteske und das Monströse.
Es ist eine Art karikierender Methode, mit der beide arbeiten. Beide lassen sich durch unmittelbare Anschauung, Reflexion und produktive Erinnerung leiten. Charles Baudelaire bewunderte das enorme Gedächtnisvermögen seines Freundes Daumier. Baudelaire konstatierte, Daumier habe aus der Karikatur eine ernste Kunst gemacht und die Karikatur sei in der Lage, die alte Kunst zu verabschieden und eine zukünftige Ästhetik einzuleiten, die Kunst und Poesie vereint.
Heine und Daumier bedienen sich der modernen Techniken der Karikatur. Sie benutzen eine Kontrastästhetik, wenn sie Bilder zusammenbringen, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben. Sie bringen in ironischer Parallelisierung Dicke und Dünne, Kleine und Große zusammen. Sie verzerren Darstellungen von Personen bis zur Kenntlichkeit. Sie verstellen sich, indem sie brisante Äußerungen anderen Leuten in den Mund legen. Sie verharmlosen, um dem direkten politischen Gegenangriff zu entgehen. „Gedankenschmuggel“ nannte Heine diese Methode, „sich seiner Zeit stellen“, lautete Daumiers Devise.