Alte Geschichten – neu dargestellt

Thomas Metzen (Tübingen)

Alte Geschichten und alte Probleme – neu dargestellt von Honoré Daumier

Heute darf gelacht werden. Die antiken Götter und Helden haben ihren angestammten Platz verlassen und sind auf der Erde gelandet – ausgerechnet auf französischem Terrain. Dort planen sie eine Neueinspielung ihrer alten Geschichten – mit nicht absehbaren Folgen. Das Stückchen soll gelingen – also geben sich die Akteure zeitnah, eben modern und menschlich. Das fördert die Verständlichkeit.

Klar, dass die alten Geschichten etwas umgeschrieben werden mussten, aktualisiert wurden. Ebenso klar, dass unsere alten Helden auf moderne Errungenschaften nicht verzichten wollten – wer wollte es ihnen verdenken? Und so schlüpften sie in das Alltagsgewand des braven, biederen Bürgers. Der Versuch einer Neugestaltung führt nicht immer zu den bekannten klassischen Resultaten. Die Sache kann den Akteuren entgleiten, die entstehenden Situationen geraten in Schieflage – sie werden einfach komisch – darüber lachen wir.

Daumier hatte von der Landung der Heroen Wind bekommen. Als alter passionierter Theaterbesucher hat er dann ihre Darbietungen auf der Bühne des Lebens verfolgt. Er hat den Zeichenstift gespitzt und das Rührstück aufgezeichnet. Und so treten sie nacheinander auf: die Helden um Troia, dieser Achill, ein Menelaos und sein Bruder Agamemnon, wir begegnen den Verursachern dieses kriegerischen Ungemachs, Paris und Helena, wir leiden mit den klassischen Liebespaaren wie Aeneas und Dido, Theseus und Ariadne, stehen mit Ödipus vor der grausamen Sphinx, blicken selbstverliebt ins Wasser wie Narziss, zittern mit den Kämpfern um Leonidas am Pass der Thermopylen, erdulden Tantalusqualen. Herausgekommen ist ein zeitnahes Gemälde von fünfzig Exponaten zur alten Geschichte. Die französische satirische Tageszeitung, der Charivari, hat diese Folge der fünfzig Blätter zwischen Ende 1841 und Anfang 1843 publiziert. Das Echo war groß und der Erfolg nicht gering. So groß, dass wir jetzt nach mehr als 150 Jahren uns immer wieder überrascht zeigen über die Frische und den Witz der Zeichnungen.

Wer ist dieser Daumier, und was ist das für eine Zeit, in der er lebte?

Honoré Daumier ist eines von zehn Kindern eines verarmten Glasers und Rahmenmachers aus Marseille. Sein Vater steht – wie damals viele Kleinstunternehmer aus der Handwerkerschaft – am Rande des sozialen Abgrunds. Die Angst vor der absoluten Verarmung treibt ihn um. Trügerische Hoffnung auf ein besseres Leben gibt ihm seine Neigung zur Poesie. Er gibt auf eigene Kosten einen Gedichtband heraus und erträumt sich eine kleine Karriere als Dichter. In dieser Zeit war das für talentierte Dichter und Maler aus den unteren Schichten eine der wenigen Aufstiegsmöglichkeiten. Man nimmt heute an, dass etwa 50 Prozent der in dieser Zeit tätigen Maler aus der Schicht der Handwerksberufe kommen. Der Vater von Honoré Daumier klammert sich an die Hoffnung, durch seinen Weggang von Marseille nach Paris in der Kapitale seinen Erfolg als Dichter zu mehren. Er meldet kleine Fortschritte nach Marseille und lässt 1817 seine Familie nach Paris nachziehen. Aber es stellen sich in der Folge nur berufliche und künstlerische Misserfolge ein. Die Familie gerät in immer größere Not und ist auf der Flucht vor Gläubigern zu ständigen Wohnungswechseln gezwungen.

Sohn Honoré zeigt schon früh eine große Begabung im Zeichnen, eine Begabung, die sein Vater, trotz schwerer Bedenken, fördert. Ein mit dem Vater befreundeter Künstler wird gebeten, das Zeichentalent des Jungen zu bewerten und gegebenenfalls zu formen. Honorés Schulzeit endet mit elf Jahren. Der Familie fehlt das Geld, ihn weiterhin die Schule besuchen zu lassen. Der Schulabgang mit elf Jahren war in dieser Zeit in Handwerkerkreisen nichts Ungewöhnliches. Er war ökonomisch zwingend. So wird Honoré Laufbursche bei einem Gerichtsdiener, dann Gehilfe bei einem Buchhändler, nimmt dann den ersten Zeichenunterricht bei dem erwähnten Freund des Vaters namens Lenoir, einem Anhänger des Klassizismus, der ihn zum plastischen Abzeichnen von Figuren nötigt. Hier liegen die Anfänge seiner bildhauerisch anmutenden Malerei und seines Talents als Plastiker, das ihn in der Folge zu einem der führenden antiklassizistischen Bildhauer des 19. Jahrhunderts werden lässt. Mit seiner Anstellung bei La Caricature und später bei Le Charivari wird der junge Daumier zum Haupternährer seiner Familie. Dem Vater hingegen fehlen Glück und Talent. Er zerbricht an seinem Schicksal und stirbt schließlich 1851 im Irrenhaus.

Honoré Daumier hat uns ein opulentes Werk hinterlassen, denn er war auf sein Einkommen als Karikaturen-Zeichner dringlich angewiesen. Die Kehrseite: Er hatte mit wenigen Unterbrechungen über 40 Jahre hinweg allwöchentlich zwei bis drei Lithografien abzuliefern. Es ist also die schiere wirtschaftliche Not, die ihn zu dieser ungeheuren Bildproduktion zwingt. Sein Lebenswerk umfasst 4000 Lithografien, 200 Gemälde, 800 Zeichnungen und etwa 1000 gezeichnete Vorlagen für Holzstiche. Er gehörte mit seinem Einkommen von 500 bis 800 Francs im Monat zu den relativ gut bezahlten Künstlern seiner Epoche. Es hat trotzdem nie gereicht. Er hat sich dauernd Geld leihen müssen, saß dauernd in der Schuldenfalle. Im April 1842 – zur Zeit des Erscheinens der Histoire Ancienne – wird sein gesamter Besitz gepfändet. Sein mitleidloses Selbstbildnis von 1841, geschaffen in Vorahnung des zu erwartenden Ungemachs, wird hier in dieser Ausstellung gezeigt.

Über ihn als historische Person lässt sich wenig sagen. Er hinterlässt kaum Selbstzeugnisse: einige belanglose Briefe, Abrechnungsbögen über seine Verkäufe, einige Textversuche zu seinen eigenen Lithografien und derlei mehr. Das ihm in den Mund gelegte Zitat „Man muss von seiner Zeit sein“ ist auch für andere dem Realismus verpflichtete Künstler geltend gemacht worden. Ob er gegen Ende seines Lebens tatsächlich erblindet ist, steht nicht zweifelsfrei fest; dass er ein Armenbegräbnis erhielt, ist dagegen gesichert. Im privaten Bereich hält er sich gerne in seinem Handwerker-Milieu auf, und so heiratet er auch die Tochter eines Glasers.

Die Zeit, in der Daumier lebt, ist eine Zeit der Revolutionen und Konterrevolutionen, von wirtschaftlichen Nöten, Hungerkatastrophen aber auch geprägt von entscheidenden Erfindungen wie die der Lithografie, der Eisenbahn und der Fotografie. Es ist eine Epoche der extremen sozialen Gegensätze, die unlösbar erscheinen. Unsere jetzige Welt spürt die Nachwirkungen. Und es ist eine Zeit der Pressefreiheit und ihrer Beeinträchtigung durch einschneidende Gesetze bis hin zur Zensur. Pressefreiheit ist ein kostbares Gut, und nicht zuletzt war Frankreichs König Charles X. 1830 deshalb gestürzt worden, weil er durch ein verfassungsbrechendes Dekret die Pressefreiheit annuliert hatte. Die der Julirevolution 1830 folgende Verfassung garantiert Pressefreiheit. Im selben Jahr gründet der Journalist und Zeichner Charles Philipon das satirische Wochenblatt La Caricature – eine Art Kulturmagazin mit einem Schuss Satire. Philipon, selbst Karikaturen-Zeichner – seine Birnenkarikaturen wirken bis heute nach –, weiß um die Macht, die von Bildern ausgehen kann, und gewinnt zur Bebilderung seines Magazins eine Reihe von begabten Zeichnern: Decamps, Gavarni, Grandville, Travies und einen jungen Autodidakten namens Honoré Daumier.

La Caricature ist als Abonnentenzeitschrift konzipiert, also nicht im Straßenverkauf oder am Kiosk erhältlich. Sie enthält vier Seiten Text, und es liegen jeder Ausgabe zwei Blätter oftmals kolorierter lithografischer Karikaturen bei. Die Zeitung ist verhältnismäßig teuer, aufwendig in der Herstellung und erreicht eine Auflage von gerade einmal 800 bis 1000 Exemplaren. Gelesen wurde dieses Blatt von einer antimonarchistisch gesonnenen, für eine bürgerliche Republik eintretenden bildungsbürgerlichen Schicht. Diese Schicht verfügt über einen gediegenen Fundus an abendländischer historischer Bildung. Ohne sie hätten die in den Grafiken von La Caricature enthaltenen Anspielungen nicht verstanden und gedeutet werden können. Aber auch diese Schicht der Bevölkerung besitzt weder das aktive noch das passive Wahlrecht. Dies bleibt auch unter dem neuen „Bürgerkönig“ Louis Philippe einer winzigen Schicht Begüterter vorbehalten. Ein solches Privileg müssten die dadurch Begünstigten eigentlich rechtfertigen. Denn mit der Devise der Großen Revolution „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ ist es keinesfalls zu vereinbaren. So befindet sich das Regime Louis Philippes von Anfang an in einer Legitimationskrise, die bis zu seinem Ende 1848 andauert und die von der oppositionellen Presse immer wieder thematisiert wird.

Die große Masse der Bevölkerung des Agrarlands Frankreich ist viel zu arm und ungebildet, um eine solche Zeitschrift zu erwerben und zu lesen . Etwa 70 Prozent der französischen Bevölkerung leben am oder unter dem Existenzminimum. Außerdem besteht die Hälfte der Bevölkerung aus Menschen, die mehr oder minder Analphabeten sind. Schulen kosten Schulgeld, die Einlösung der Forderung nach kostenfreiem Elementarunterricht sollte noch lange auf sich warten lassen.

La Caricature schlägt schon nach kurzer Zeit einen heftigen, an Schärfe kaum zu überbietenden Ton an, und die beigegebenen Grafiken tun dies ebenfalls. Frech bis schamlos geben sie den Monarchen und die Regierung – das selbst ernannte „Juste milieu“ – der Lächerlichkeit preis. Die Verlachten finden das so komisch nicht und ziehen vor Gericht, um die missliebige Zeitschrift auf juristischem Wege zu Fall zu bringen. Philipon resümiert nach zwei Jahren zwanzig Beschlagnahmungen, sechs Prozesse, drei Verurteilungen, 6000 Francs Geldstrafe und 24.000 Francs Kautionsforderungen. Dazu kommen längere Haftstrafen für Philipon und auch für den jungen Daumier und den Drucker.

Philipon hat früh nicht nur das zeichnerische Talent von Daumier erkannt, sondern auch einen begabten Plastiker in ihm entdeckt. Ob er den Bildhauer in seinen Zeichnungen entdeckt hat, oder ob es von ihm veranlasste Vorversuche und Talentproben gegeben hat, entzieht sich unserer Kenntnis. Jedenfalls erhält Daumier 1832 von Philipon den Auftrag, Tonbüsten von den einflussreichsten Vertretern der Deputiertenkammer zu modellieren. Diese Büsten aus ungebranntem, bemaltem Ton – hier in der Ausstellung sind Fotografien gezeigt, sollen, so die Idee Philipons, allen Mitarbeitern von La Caricature als Vorlage für deren Zeichnungen dienen. Es mögen wohl insgesamt 50 dieser Tonbüsten entstanden sein, 36 davon haben sich erhalten und befinden sich heute im Pariser Musé d’Orsay. Daumier hat viele dieser „Zelebritäten“ dann in Lithografien umgesetzt. Am berühmtesten wurde das Blatt, das 1834 entstand, der „Ventre legislatif“, die Ministerbank, das 24 Porträts vereint.

1835 werden nach einem Attentatsversuch auf Louis Philippe die Pressegesetze deutlich verschärft, und es wird unter anderem für bildliche Darstellungen eine Vorzensur eingeführt. Die Folge: La Caricature muss eingestellt werden. Das Blatt trug sich angesichts der zu geringen Auflage sowieso nicht. Aber der um- und weitsichtige Philipon hatte schon 1832 eine satirische Tageszeitung gegründet, die er Le Charivari – „Die Katzenmusik“ nannte. Die Zeitung enthält ebenfalls vier Seiten Text, aber der Leser findet auf Seite 3 eine Lithografie, eingedruckt in den Zeitungsbogen. Auf eine Kolorierung wird verzichtet. Der Mitarbeiterstab ist jener der Caricature. Aufgrund der viel geringeren Herstellungskosten ist sie, die Tageszeitung, erheblich preiswerter und steuert höhere Abonnentenzahlen an. Sie erreicht die nämlichen Leserschichten wie La Caricature. Um das Blatt zu halten, entschließt sich Philipon nach 1835 zu einem behutsameren Kurs, dem der unpolitischen Karikatur. Seine Zeichner entdecken das weite Feld der bürgerlichen Alltagswelt – dieses ungeheure Spektrum der alltäglichen Banalitäten, ein unerschöpflicher Fundus für Karikaturisten. Aber eben auch ein mittelbares Abbild der politischen Ordnung. Zu Zeiten der Zensur wird die Karikatur genötigt, die Wahrheit zu verschlüsseln, eine doppelbödige Botschaft zu vermitteln. Kritik an der herrschenden Ordnung und der herrschenden Moral versteckt sie hinter einem scheinbaren Amüsement, tarnt sich als harmloser Spaß, beispielsweise in Form eines Götterulks.


Die Histoire Ancienne

Wer die Idee zu einer Histoire Ancienne hatte, ist letztlich nicht zu klären. Unbekannt ist auch, wie hoch der Anteil Daumiers bei der Auswahl der Bildthemen und bei der Bildkonstruktion war. Vermutlich war die Histoire Ancienne ein Gemeinschaftswerk der gesamten Redaktion. Darauf deuten auch die Bildunterschriften hin. Da saßen nämlich jede Menge kluge und gebildete Leute. Das würde auch die Vielfalt der in der Histoire Ancienne angesprochenen Themen erklären. Doch muss der Journalist Albéric Second eine führende Rolle in der Entstehungsgeschichte der Histoire Ancienne gespielt haben. Denn nur in einer einzigen Lithografie hat Daumier jemals im Bild direkt einem Freund für gebotene Hilfe gedankt: „à mon ami Albéric Second“, wie es in der Legende zu der „Taufe des Achill“ heißt, die oben im ersten Stock zu bewundern ist. Daumier besaß nur eine rudimentäre Volksschulbildung. Von einer klassisch-humanistischen Bildung war er aufgrund seiner Herkunft ausgeschlossen. Zumindest aber waren ihm seit seiner Zeit, als er im Louvre saß, um Plastiken zu kopieren, die dort ausgestellten griechischen und römischen Skulpturen vertraut. Und er kannte natürlich die thematisch einschlägigen Bilderwelten der klassizistisch orientierten napoleonischen Künstler vom Schlage Davids oder Ingres.

SOCRATE CHEZ ASPASIE.
10. SOKRATES CHEI ASPASIE.

Eines der schönsten Blätter der Serie zeigt den tanzenden Sokrates vor Aspasia. Wer würde nicht den sich schlängelnden Philosophen als blanke Karikatur auf die Zicken einer launenhaften Schönen verstehen, die den armen Sokrates auf seine alten Tage das Tanzen nach ihrer Geige lehrt? Und doch, wenn wir in einen klassischen Texte schauen, in Xenophons Gastmahl, werden wir eines anderen belehrt. Dort ist ein Dialog zwischen Sokrates und seinen Gesprächspartnern wiedergegeben, in dem Sokrates die Vorzüge des Tanzens rühmt. Es diene der Pflege seiner Gesundheit, würde ihn besser essen und schlafen lassen und auch seinen Bauchumfang etwas mindern. Außerdem ist belegt, dass Aspasia, die Frau des Perikles, und Sokrates gut miteinander bekannt waren. Soweit die Historie. Doch der Witz des Blattes liegt woanders: Sokrates muss seinen schwergewichtigen Körper zu einer Ballettfigur aufrichten – auf Geheiß von Aspasia, die es ihm ordentlich geigt. Ganz abgesehen von dem für die Antike unbekannten Instrument der Geige nimmt Daumier mit diesem Bild als Hintergrundinformation die in seiner Zeit laufende Diskussion zur Frauenemanzipation wieder auf und warnt mit solchen Bildern vor den möglichen drohenden Folgen für die Männerherrschaft. Bei diesem Thema gehörte Daumier nicht gerade zu den Progressiven im Lande.

Des Weiteren möchte ich in diesem Zusammenhang auf das brillante Blatt „Die Jugend des Alkibiades“ verweisen. Die Zeitgenossen wussten, wer sich hinter dem von Daumier gestalteten Alkibiades mit dem in der Antike unbekannten Monokel versteckte: keine geringere nämlich als die Dichterin George Sand, die Freundin Frédéric Chopins, die bekanntlich gern in Männerkleidern herumlief. Auch der Alkibiades-Sand begleitende Pudel, dazu noch halb geschoren und kupiert, ist ein Anachronismus, weil es in der Antike keine Pudel gab. Zahlreiche Blätter der Histoire Ancienne beziehen ihren Witz auch aus derartigen absichtlichen Zeitschnitzern, aus Beigaben der Moderne. Schmachtet nicht Penelope viel schöner im hellen Gaslicht als im Schein einer Fackel? Die die Zähmung des Herkules maliziös beobachtende Omphale sitzt auf einem modernen Louis-Philippe-Sofa. Telemach, der frisch verliebte, stolziert mit einem von Papier umwickelten Blumenstrauß daher.

JEUNESSE D'ALCIBIADE.
19. JEUNESSE D’ALCIBIADE.

Dädalus beobachtet mit wissenschaftlichem Scharfblick und gänzlich ungerührt mit einem Fernrohr den Absturz seines Sohnes Ikarus. Der liebestrunkene kühne Schwimmer Leander ist mit Schweinsblasen als Schwimmgürtel und Badekappe bestens gerüstet. Dem unglücklichen Schicksal Leanders, der im Hellespont ertrinkt, wird mit dem Mittel der Karikatur die tragische Spitze genommen. Das letzte Blatt der Serie ist gleichermaßen ein Gipfel der Komik und der Eigenwerbung. König Minos als Richter in der Unterwelt liest lieber den Charivari als seinen richterlichen Aufgaben nachzugehen. Sein geduldig ergebenes Gegenüber würdigt er keines Blickes. Doch genug davon. Dem aufmerksamen Betrachter soll die Freude am Entdecken weiterer Requisiten der Moderne nicht genommen werden.

Dem Charivari-Abonnenten der 1840er Jahre wird ein weiterer satirischer Aspekt der Histoire Ancienne nicht entgangen sein. Der gebildete Leser und Bildbetrachter kann bei sechs Blättern der Reihe Travestien auf bekannte Gemälde der Zeit entdecken, Gemälde, die samt und sonders der klassizistisch orientierten Schule um David und Ingres entstammten. Einer der parodierten Maler, ein Schüler von David, war ernstlich verstimmt und verklagte den Charivari. Ein bemerkenswertes Beispiel aus Künstlerkreisen, das uns lehrt, dass es nicht immer nur die Politiker sind, die sich beleidigt bei den über sie gemachten Witzen geben. Dänische Mohammed-Karikaturen können massive politische Folgen haben, wie unlängst deutlich wurde. Spott ist eben eine scharfe Waffe.

Charles Baudelaire vermerkt am Ende seines Daumier-Essays, man müsse neben dem Künstler Daumier auch den Moralisten Daumier würdigen. Wir fragen: Welche Moral steckt in der Histoire Ancienne? Antikenrezeption ist immer auch Antikenselektion.

Wie schon bei den Bildparodien angedeutet übt Daumier Kritik an einem Bild von der Antike, das aus strategisch-ideologischen Gründen die heroisch-asketischen Momente ungebührlich hervorhebt und alle anderen emotionalen Aspekte unterdrückt. Das Dionysische der Antike findet bei den Klassizisten nicht statt. Bei Daumier hingegen taucht es als Gegenbild wieder auf, wenn er die Götter und antiken Heroen in den Alltag entlässt, mit all den hier schon gezeigten Folgen.

Der von der politischen Elite des sogenannten „Juste milieu“ propagierte Antikenbegriff ist auf ein Erziehungsideal hin ausgerichtet, das auf Ordnung, Treue, Zucht und Gefolgschaft setzt: Dieses klassisch-idealistisch geprägte Erziehungsideal lässt sich in der Diskussion um die richtige Pädagogik dieser Zeit wiederfinden. Von 1832 bis 1837 ist François Guizot Erziehungsminister. Er verteidigt vehement seine Schulreform: Elementarunterricht – nur für Knaben natürlich – in jeder Gemeinde, staatlich besoldete Volksschullehrer, humanistische Bildung in den höheren Schulen. Die auszubildenden Eliten sollen auf den Geist der Vorbildhaftigkeit von Heldenmut, Strebsamkeit, Tugendhaftigkeit eingeschworen werden. Selbstlosigkeit und Opferwillen sind die Tugenden eines solcherart verstandenen griechisch-römischen Erziehungsideals.

6. LES NUITS DE PENÉLOPE.

Doch warum werden nicht vorrangig christliche Werte propagiert, wie es in einem katholischen Land – der „ältesten Tochter der Kirche“ – naheliegen sollte? – Die Gründe liegen auf der Hand. Die Julirevolution von 1830 hatte die Allianz von Thron und Altar zerstört, und der Katholizismus als Staatsreligion wurde abgeschafft. Zu sehr hatte sich die Kirche unter Charles X. für die Interessen von König, Regierung und der Revision der Ergebnisse der Französischen Revolution von 1789 eingesetzt. Ihr Ansehen und ihre Wertvorstellungen hatten stark gelitten. Sie galt als Erzfeindin der Republik. Große Teile der städtischen Bevölkerung waren und blieben kirchenfern. La Caricature und der Charivari bekämpften die Kirche mit Leidenschaft.

Nach der Inthronisierung 1830 von König Louis Philippe erklärt der Bankier Lafitte unverblümt: „Von nun an herrschen die Bankiers“. Wie wahr! „Die Juli-Monarchie“, schreibt Karl Marx 1850, „war nichts als eine Aktienkompanie zur Exploitation des französischen Nationalreichtums, deren Dividende sich Minister, Kammern, 240.000 Wähler und deren Anhang teilten. Louis Philippe war der Direktor dieser Kompanie.“

So bleibt die Frage: Wie passen das so verengte klassische Erziehungsideal und das reale Verhalten der herrschenden Elite zusammen? Die Berufung auf die Tugend des Verhaltens auf der einen Seite und das konträr reale Verhalten der Untugend auf der anderen? König Louis Philippe hat sich tatsächlich nach dem Regierungsantritt zu dem Satz bekannt: „Ich opfere mich“. Indem die herrschende Klasse sich selbst ihres tugendhaften Handelns rühmt, verschafft sie sich eine kaum zu erschütternde Legitimationsgrundlage für noch so unmoralisches Handeln. Ihr Selbstverständnis und ihr Gewissen befinden sich im Einklang mit den moralischen Grundlagen. Guizot kann an die Franzosen appellieren – und er meint es ernst: „Bereichert euch durch Arbeit und Sparen. Verzichtet auf eure politischen Rechte.“

Wie aber jeder wusste, waren nur die beiden ersten Wörter im „Juste milieu“ der Julimonarchie die Triebfeder des Handels der führenden gesellschaftlichen Kräfte Frankreichs. Unfreiwillig wird der ehrbare Guizot zum Stichwortgeber dieser Zeit. Victor Hugo hat recht: „Guizot macht den Eindruck einer ehrlichen Frau, die ein Bordell führt.“ Daumier hat die Phrasenhaftigkeit dieses pathetisch-heroischen Leitbildes erkannt und deshalb die falschen Götter kurzerhand zu richtigen Menschen gemacht.

Der Moralist Honoré Daumier trifft mit seinen Karikaturen die Legitimationsgrundlagen der Julimonarchie. Er entlarvt das pathetisch-heroische Erziehungsideal dieser Elite als pure Ideologie: Dem schnöden Sein wird der Mantel des schönen Scheins übergeworfen. Die Karikatur hat damit ihr Ziel erreicht – auch und gerade unter den Bedingungen der Zensur.

Das Thema Antike hat Daumier Zeit seines Lebens beschäftigt. Die Bildthemen der Histoire Ancienne haben in anderen Zusammenhängen oft eine neue und oft erweiterte Bedeutung erfahren. Proben dieser Bildverformung sind in dieser Ausstellung den Blättern der Histoire Ancienne hinzugesellt: Die neuen Ikarusse der Partei der Ordnung (das heißt der Partei der konservativen, bonapartistischen, monarchistischen Kräfte) haben sich 1848 am allgemeinen Wahlrecht vergriffen und werden zur Strafe dem historischen Ikarus nachfolgen. Die neuen Auguren planen, die republikanische Verfassung von 1848 auszuhebeln, und der neue Marius im Sumpf möchte auch in äußerst bedrohter Lage nicht auf seine reichlich absurden Herrscherinsignien verzichten: Vorgeblich wird die bizarre Figur des Soulouque gezeigt, zeitweilig Herrscher in Haiti, gemeint ist aber der Soulouque Frankreichs, Napoléon III., der Operettenkaiser. Alle wussten, wer mit „Soulouque Frankreichs“ gemeint war, aber die Zensur war machtlos. Soweit reicht die Macht der Karikatur.

Als Abschluss des Bild-Parcours zeigt die Ausstellung im Erdgeschoss Daumiers späte Lithografien zu den auf Europa zukommenden Kriegen. Beim Betrachten dieser Bilder bewahrheitet sich das, was Baudelaire einmal über Daumier gesagt hat: „Er hat die Karikatur zur ernsten Kunst gemacht.“

Diese Bilder bedürfen eigentlich keines Kommentars. Wieder bemüht er die antiken Götter. Es ist nicht mehr der Mars, der in der Histoire Ancienne im Netz des Vulkans zusammen mit Venus gefangen und dem homerischen Göttergelächter preisgegeben war. Es ist der böse, zornige Mars, der mit seinem Erscheinen die kommenden Kriege im Europa der imperial-aggressiven Nationalstaaten ankündigt. Der Scheinfriede hält bis dahin nur durch ein zeitlich begrenztes Gleichgewicht der Hochrüstung. Und es tritt Chronos auf, der mit feinem, abgründigem Lächeln und mit immer effektiveren Waffen hantierend den Völkern Europas den Lebensfaden abschneidet. Und selbst die Figuren des Friedens und die der Europa-Penelope mutieren zu Rachegöttinnen. Wie weit sind doch diese Bilder von christlicher Heilserwartung und Erlösung entfernt!

Charles Baudelaire meinte, der Weise lache nur mit Zittern.

Thomas Metzen, Vortrag anlässlich der Ausstellungseröffnung am 16. Januar 2009 im Hanse-Wissenschaftskolleg, Delmenhorst.

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