Prototyp des skrupellosen Emporkömmlings
Das Frankreich des 19. Jahrhunderts ist ein höllisches Paradies für Karikaturisten. Die Revolutionen von 1830 und 1848, die Zerschlagung der zweiten Republik durch Napoleon III., die Niederlage gegen Deutschland 1870, die Dritte Republik und die Pariser Kommune. Und immer wieder wirft die Zensur der Presse Knüppel zwischen die Beine. Als Karikaturist wird Daumier praktisch über Nacht ein Star, vom Volk geliebt, von der jeweiligen Obrigkeit gehasst. Ihn treibt sein unbeugsamer humanistischer Idealismus. Er kämpft gegen Machtmissbrauch, Ungerechtigkeit und Unterdrückung.
Zielscheibe seines Spotts sind Klerus, Politik, Justiz und „das groteske Treiben der Welt“. Er kämpft für die Republik und um sein tägliches Brot.
Daumier wird zum Medienmann der ersten Stunde – ein Tagelöhner der Presse. Dabei greift er raffiniert in die mediale Trickkiste: Für seine Serien entwirft er markante Typen, die – obwohl frei erfunden – jedermann erkennt. Auch das ist ein Winkelzug, um der Zensur ein Schnippchen zu schlagen.
Da ist zum Beispiel die Figur des „Robert Macaire“, der Prototyp des skrupellosen Emporkömmlings zur Zeit der Julimonarchie. Daumier stellt die vielfältigen Machenschaften dieser Schmarotzerschicht bloß, die Menschen auf eine brutale und kriminelle Weise betrügt. Und er macht deutlich, dass der betrügende Bürger letztlich nichts anderes ist als ein Appendix des Staates, der seinerseits ebenfalls das arbeitende Volk ausnimmt.
Text: Auszug aus der Komödie „Robert Macaire“ (1833) von Maurice Alhoy, Benjamin Roubaud, Saint-Amant, Frédérick-Lemaître: Robert Macaire; 3. Akt
1. Akt, Viertes Bild, 6. Szene
MACAIRE, BERTRAND, EIN DIENER, später DIE AKTIONÄRE
DER DIENER: Die Herren Aktionäre!
MACAIRE: Lassen Sie eintreten.
BERTRAND: Was wirst du ihnen sagen? …
MACAIRE: Willkommen, meine Herren. (Sie nehmen Platz.) Bitte nehmen Sie Platz. Verteilen Sie unter diese Herren das Prospekt unserer Leistungen, ich habe es lithographisch vervielfältigen lassen…
Gut! (Schüttelt die Glocke.) Meine Herren, in einer Zeit, da die schlimmen Leidenschaften wie eine Sturmflut über unsere gesellschaftliche Ordnung einbrechen, in einem Jahrhundert, da ein jeder versucht, unbemerkt die Hand in die Tasche seines Nachbarn zu stecken, darf eine Vereinigung gegen Diebstahl als ein ebenso großherziger wie gemeinnütziger Gedanke gelten. Mir gebührt die Ehre, ihn ersonnen zu haben; Ihnen jedoch, meine Herren, die, ihm mit Hilfe Ihres Kapitals und Ihrer Unterstützung zu Erträgen verholfen zu haben. Ein solches Unternehmen mußte prosperieren und es hat prosperiert. Die Ergebnisse könnten nicht befriedigender sein. Geben Sie sich nur die Mühe, einen Blick auf die Arbeit zu werfen, die in Ihren Händen liegt…
MONSIEUR GOGO: Ich warte auf die Dividende!
DIE AKTIONÄRE: Nein, nein! (Tumult.)
MACAIRE: Meine Herren, Monsieur Gogo hat vollkommen Recht, und es ist meine Absicht, sie binnen kurzem zu verteilen… Doch ich darf Ihnen nicht verschweigen, daß die Risiken zunehmen…, daß die Diebstähle häufiger werden… die Polizei nimmt nicht alle Diebe fest, meine Herren; ich mache ihr daraus keinen Vorwurf; darum habe ich im Interesse der Gesellschaft ein Projekt erdacht, das wesentlich mit unserer Versicherung gegen Diebstahl zusammenhängt… Ich bin in Verhandlungen mit der Regierung, um die Leitung der königlichen Polizei zu erhalten…. Ich biete eine Ersparnis von zehn Millionen.
ALLE: Zehn Millionen!
MACAIRE: Wir stehen mit unseren Geldern für alle Diebstähle ein, die niemand mehr als wir zu unterdrücken interessiert ist.
ALLE: Gut! Gut!
MACAIRE: Ich warte auf eine Audienz beim Minister, bei dem ich, ich wage es zu behaupten, in hoher Gunst stehe; und ich habe alle Ursache zu glauben, daß ich in kurzem, wie ich soeben die Ehre hatte anzudeuten, zum Generaldirektor der Polizei des Königreichs Frankreich… und Navarra ernannt werde.
BERTRAND: Was für eine bewundernswerte, gigantische Aufgabe!
MACAIRE: Und für diese Aufgabe wird mir ein Fonds von fünf Millionen zur Verfügung gestellt werden… Mit Recht stehen die lukrativsten Stellen den ersten Aktionären zu… das ist nur Recht… Meine Herren, erwarte ich zuviel von Ihnen, wenn ich annehme, daß Sie die ersten sein werden…
ALLE: Ja! Bravo! Gut!
M. GOGO: Einen Moment! Bevor neues Kapital eingesetzt wird; denn Sie bemerken wohl, meine Herren, daß es sich um neues Kapital handelt…
BERTRAND: Aber nein, es handelt sich um ein neues Unternehmen…
MACAIRE: Monsieur Gogo, wie kindisch Sie sind! Die Sache versteht sich von selbst… sie steht klar vor aller Augen da; und nur Böswilligkeit kann uns Knüppel zwischen die Beine werfen…
M. GOGO: Ich will nicht Knüppel zwischen die Beine werfen, sondern Gewinne in meine Tasche stecken…
BERTRAND: Das ist ein Geldmensch! (Alle erheben sich.)
M. GOGO: Ja – Geld, Gold! Wie Sie wollen.
BERTRAND: Wie! Es sollte dem erstbesten Individuum gestattet sein, unbedachte, unüberlegte Vorschläge zu machen! (Tumult.)
Übersetzung: Claude Keisch