Karikatur und Kunst – die beiden haben und hatten es nicht immer leicht miteinander. Ihr Verhältnis zueinander bleibt zwiespältig und in dauernder Bewegung. In jeder Epoche ordnen sie ihre Beziehungen wieder neu – so auch in dem uns interessierenden Zeitraum zwischen 1830 und 1880.
Karikatur und Kunst – die beiden haben und hatten es nicht immer leicht miteinander. Ihr Verhältnis zueinander bleibt zwiespältig und in dauernder Bewegung. In jeder Epoche ordnen sie ihre Beziehungen wieder neu – so auch in dem uns interessierenden Zeitraum zwischen 1830 und 1880.
Der Zufall will es, dass ein Kunstkritiker des Charivari, einer französischen Karikatur-Zeitschrift, namens Louis Leroy im April 1874 die erste Impressionisten-Schau besuchte und die Bilderschau in einem Artikel im Charivari als bloßen „Impressionismus“ schmähte. So bekam das Kind seinen Namen.
Charles Daubigny, ein Maler der „Schule von Barbizon“ soll angelegentlich seiner Betrachtung der Fresken in der Sixtinischen Kapelle in Rom gesagt haben: „Der malt ja wie Daumier“. Das wird Michelangelo gefallen haben und der benannte Honoré Daumier sollte später mit dem Ehrentitel „Michelangelo der Karikatur“ belehnt werden.
Zwei Episoden aus dem 19. Jahrhundert, die eine Menge erzählen können, wie in dieser Zeit es Karikatur und Kunst miteinander halten. Die Genese des Begriffs „Impressionismus“ verweist auf das komplizierte Beziehungsgeflecht von Kunst und Karikatur im Frankreich des 19. Jahrhunderts.
Dort treffen sich Momente der Universalhistorie – es ist das Europa der rivalisierenden Nationalstaaten zwischen Revolution und Reaktion auf Momente der individuellen politischen und sozialen Geschichte Frankreichs, zum anderen entwickeln sich, gespeist von technischen Erfindungen und Forschungen zur Sinnesphysiologie des Menschen, neue Wahrnehmungsstrategien, neue Wirkungsästhetiken. Und es entwickelt sich eine neue Form der Bildpresse, darunter die Karikaturenpresse. Letztere bezieht Stellung zu dem gesellschaftlichen Produkt Kunst und kann so zum Namensgeber einer neuen Malweise, dem Impressionismus, werden.
Die Daubigny-Anekdote verweist gleichermaßen auf die komplexen Strukturen, die sich im Modernisierungsprozess Frankreichs zwischen 1830 und 1870 entwickeln. Nur nimmt sie den umgekehrten Weg — mit der Betrachtung eines Individuums, dem Karikaturisten Honoré Daumier im Flusse seiner Zeit, seines individuellen Schicksals, seiner jahrzehntelangen Arbeit in einem Wirtschaftsunternehmen namens Karikaturenpresse, seines Zeitzeugnisses. Sie nennt die Resultate seiner Arbeit, sein Bildvermächtnis, das, wie die hübsche Anekdote zeigt, auch extreme Vergleiche nicht scheut. Und so gilt es, mit dem Mann Daumier, sein Zeitalter zu würdigen, seine Bilder – man mag sie Karikaturen nennen oder auch nicht – als Widerhall des schwierigen und scheinbar endlosen 19. Jahrhunderts zu begreifen — als Signatur dieser Zeit, um diesen schönen Begriff von Heinrich Heine aufzugreifen.
[…] Der Bildermacher Daumier lebt in einer spannungsgeladenen und turbulenten Zeit, es ist die Zeit der Revolutionen und Konterrevolutionen, die Zeit der zunehmend kriegerischen Auseinandersetzungen imperialer Mächte auf europäischem Boden, die Zeit der wirtschaftlichen Nöte, der Konjunkturkrisen, der Hungerkatastrophen und der verheerenden Epidemien. Es ist die Zeit der entscheidenden Erfindungen wie: Gaslicht, Eisenbahn, Elektrizität, Fotographie und Lithographie. Und es ist die Zeit der Transformation des alten Paris in eine moderne, glanzvolle Metropole.
Die der Juli-Revolution folgende Verfassung garantiert Pressefreiheit. Im selben Jahr gründet der Journalist und Karikaturist Charles Philipon das satirische Wochenblatt „La Caricature“ – eine Art Kulturmagazin mit einem Schuss Satire. Motto: ‚castigat ridendo mores‘. Philipon kennt die Macht, die von Bildern ausgehen kann, die, die mit den Augen sprechen und gewinnt zur Bebilderung seines Magazins eine Reihe von begabten Zeichnern: Decamps, Gavarni, Grandville, Traviès und einen jungen Autodidakten namens Honoré Daumier. „La Caricature“ ist als Abonnentenzeitschrift ausgelegt, also nicht im Straßenverkauf oder am Kiosk erhältlich. Sie enthält 4 Seiten Text und es liegen jeder Ausgabe 2 Blätter, oftmals
kolorierter lithografischer Karikaturen bei. Die Zeitung ist aufwändig in der Herstellung, daher verhältnismäßig teuer und erreicht gerade mal eine Auflage von etwa 800 bis 1.000 Exemplaren.
Gelesen wurde dieses Blatt von einer vorwiegend antimonarchistisch gesonnenen, für eine bürgerliche Republik eintretenden bildungsbürgerlichen Schicht von Geschäftsleuten, Industriellen, Rechtsanwälten, Notaren, Doktoren, Apothekern, Politikern und Offizieren. Diese meist akademisch vorgebildete Schicht verfügte über den nötigen Wissensvorrat an politischen, literarischen und künstlerischen Kenntnissen, um die Bilder „lesen“ zu können. Diese Karikaturen waren Teil einer bildungsbürgerlichen Elitenkultur, die sich von der Ausübung politischer Macht durch den engen Wahlzensus ausgeschlossen sah. Die von den damaligen Machthabern geteilte Befürchtung einer Politisierung der Massen mit Hilfe solcher Karikaturen ist daher eher unbegründet. Die große Masse der Bevölkerung Frankreichs war viel zu arm und ungebildet, um am Konsum einer solchen Zeitschrift teilzuhaben. Etwa 70% der Bevölkerung Frankreichs lebten am oder unter dem Existenzminimum. Außerdem waren 50% der Bevölkerung mehr oder weniger Analphabeten. Schulen kosteten Schulgeld, die Einlösung der Forderung nach kostenfreiem Elementarunterricht sollte noch lange auf sich warten lassen.
„La Caricature“ schlug nach kurzer Zeit einen heftigen, an Schärfe kaum zu überbietenden Ton an – und die beigegebenen Bilder taten ihresgleichen. Frech bis schamlos gaben sie dem Monarchen und die Regierung- dem selbst ernannten „juste milieu“ – der Lächerlichkeit preis. Die Verlachten fanden das so komisch nicht und zogen vor Gericht, um das missliebige Blatt auf juristischem Wege zu Fall zu bringen. Philipon resümiert nach zwei Jahren 20 Beschlagnahmungen, 6 Prozesse, 3 Verurteilungen, 6.000 Francs Geldstrafe und 24.000 Francs Kautionsforderungen. Verurteilt zu Haftstrafen werden Philipon selbst, der Drucker und unser junger Daumier.
Philipon hatte früh nicht nur das zeichnerische Talent von Daumier erkannt, sondern auch einen begabten Bildhauer in ihm entdeckt. Daumier erhielt 1832 von Philipon den Auftrag, Tonbüsten von den einflussreichsten Vertretern der Deputiertenkammer zu modellieren. Diese Büsten aus ungebranntem Ton – gleichwohl bemalt- sollten allen Zeichnern der Karikatur als Vorlage dienen. Es mögen wohl insgesamt 50 dieser Tonbüsten entstanden sein, 36 davon haben sich erhalten. Auch Daumier hat viele seiner Zelebritäten in Ton dann in lithografische Bilder umgesetzt. Am berühmtesten wurde das 1834 entstandene Blatt der „Ventre législatif“, die Ministerbank, die 24 Portraits vereinte.
1835 wurden nach einem Attentatsversuch auf König Louis Philippe die Pressegesetze deutlich verschärft, vor allem eine Vorzensur für Bilder eingeführt. Die Folge: „La Caricature“ wurde eingestellt. Das Blatt trug sich aufgrund hoher Gestehungskosten und zu geringer Auflage (Juni 1835 nur 850 Subscribenten). Aber der um- und weitsichtige Philipon hatte schon im Jahre 1832 eine satirische Tageszeitung gegründet, die er „Le Charivari“, die „Katzenmusik“ nannte. Diese Zeitung enthielt 4 Seiten Text und der Leser fand auf Seite 3 eine in das Zeitungspapier eingedruckte Originallithographie. Auf eine Kolorierung des Bildes wurde verzichtet. Aufgrund der viel geringeren Herstellungskosten war die satirische Tageszeitung erheblich preiswerter und steuerte höhere Abonnentenzahlen an. Aber: die wirtschaftliche Lage der beiden Karikatur-Zeitschriften blieb außerordentlich schwierig. Verleger und Herausgeber Philipon hatte mit den geringen Auflagen, mit Herstellungskosten, zusätzlich mit der Stempelsteuer, den vorab zu entrichtenden Kautionen und den hohen Geldstrafen, die den Beschlagnahmungen oft folgten, zu kämpfen. Außerdem lagen die beiden Satireblätter in den Lesezirkeln, den Cafés und den Lesekabinetten aus, in denen der Interessierte die Blätter für wenige Sous lesen konnte. Beide Blätter blieben Verlustgeschäfte, auch der „Charivari“ erlebte einige Bankrotte. Philipon konnte seine Satireblätter nur halten, weil seine anderen Presseprodukte, ein bunter Strauß von unpolitischen Unterhaltungsmagazinen, hohe Gewinne abwarfen. Er hat sich die beiden Karikaturblätter schlicht und einfach geleistet, um seinem politischen Credo des Kampfes Philipon gegen Louis Philippe zu einem medienwirksamen Auftritt in der Öffentlichkeit zu verhelfen.
Philipon war ein oftmals autoritär auftretender Verleger und Herausgeber. Kein Bild, kein Text erschien ohne seine Einwilligung. Die Serie des „Robert Macaire“ zum Beispiel war, was die Planung der Serie, die Ausarbeitung der einzelnen Szenen, die Betextung anging, allein sein Werk. Zu allen Zeiten nahm er auf die Konzeption von Einzelbildern und -serien, auf die Art der Zeichnung, auf die Betitelung und auf die nachträglich eingefügte Legende den größtmöglichen Einfluss. Das gilt auch für die Beiträge von Honoré Daumier.
Gleichwohl sind seine politischen Maximen, die politischen Inhalte seiner republikanischen Haltung eher unbestimmt. Eine Festlegung auf die politische Linie einer der republikanischen Fraktionen der Opposition hätte eine weitere Minderung der Zahl der Subscribenten zur Folge haben können.
So bleiben: sein ausgesprochener Antiklerikalismus, sein stark national eingefärbter Patriotismus, sprich sein republikanisch eingefärbter Nationalismus, sein auch wirtschaftlichen Erwägungen folgendes Eintreten für die Pressefreiheit und für das allgemeine Wahlrecht für Männer. Der Ruf nach sozialen Reformen bleiben ihm fremd, gelten ihm als sozialistische Experimente, die die bestehende gesellschaftliche Ordnung bedrohen könnten. Nur so kann der Beifall des „Charivari“ für den „Juni-Schlächter“ von 1848, für General Cavaignac zu erklären sein, der den Aufstand des Pariser Proletariats in einem beispiellosen Massaker zusammenschießen ließ.
Von den Zeichnern der „Charivari“ kam, was diese Ereignisse anging, vor allem Philipons Favorit unter den Zeichnern Graf Amédeé, Charles Henry de Noe, genannt Cham, zu Wort. Der vertrat die reaktionäre Seite des Blattes und durfte die politischen Rechtfertigungsbilder des „Charivari“ zeichnen. Daumier schwieg. Nur der Chefredakteur Taxile Delord nahm eine kritische Haltung zu den Juni-Ereignissen ein und wurde prompt durch Louis Huart ersetzt. Erst später erhielt Delord seinen Posten zurück. Cham blieb auch bei dem uns interessierenden Thema: Karikatur und Kunst, der konservative Bannerträger des Blattes; auffällig waren seine gehässigen Salon-Karikaturen, die sich in betont abfälliger Weise zu den Bildern der Maler des modernen Lebens, etwa des Realisten Courbet oder des Impressionisten Manet äußerten.
Doch Philipon glaubte sein Leserpublikum zu kennen. Chams Einschätzung der künstlerischen Avantgarde war repräsentativ für die Sehgewohnheiten und Kunstauffassungen des Leserkreises des „Charivari“.
Daumier schwieg oder wurde zum Schweigen gebracht. Er entzog sich der politischen Linie des „Charivari“. Die politische Erblindung dieser Variante des Republikanismus wurde von ihm nicht mitgetragen. Ergebnis: allein in den Jahren 1848 und 1849 wurden 36 von Daumier gefertigte Lithographien nicht veröffentlicht. Es kann im übrigen nur Provokation sein, wenn Daumier im schwierigen Jahr 1848 dem Verlag die Darstellung eines Zeitung lesenden Arbeiters im Beisein eines spitz gezeichneten dickbäuchigen Bourgeois anbot. Das Blatt wurde nie veröffentlicht. Daumier kam erst wieder zu Wort und Bild, als das „Kind ins Wasser gefallen“ war, sprich Louis Napoleon zum Präsidenten der Republik gewählt worden war und bei den nachfolgenden Wahlen zur Nationalversammlung die „Partei der Ordnung“ aus Legitimisten, Orléanisten, Bonapartisten und Resten der Republikaner zum Totengräber der Zweiten Republik wurden. Bis zum Staatsstreich im Dezember 1851 gewährte der „Charivari“ wieder di Freiheit des politischen Diskurses.
Die junge moderne Kunst, Malerei und Bildhauerei hatten es schwer in dieser Zeit der politischen und sozialen Wirren, beim bürgerlichen Publikum Akzeptanz zu finden. Nur die Vertreter der Schule von Barbizon gewannen nach 1848 allmählich Anerkennung und erzielten nun gute Preise. Daumier erfuhr die wirtschaftliche Not seiner Künstlergeneration aus eigener Anschauung, am eigenen Leibe. Bekanntlich fing er 1848, in dem Jahr, in dem er auch einen Preis von der Regierung für sein Bild zum Ruhme der Februar-Revolution erhielt, in größerem Umfang an z malen und zu zeichnen – jetzt im ‚ernsten Stil‘, karikierende Elemente weitestgehend vermeidend. Zunächst blieb das ohne jeden Erfolg auf dem Bildermarkt, erst viele Jahre später, erst Mitte der 60er Jahre fand sich ein kleiner Kreis von Käufern für seine, neben den Karikaturen entstandenen Werke.
Seine Zeichnungen und Ölgemälde fanden zuvorderst nur den Beifall seiner Künstlerkollegen außerhalb des „Charivari“-Umfeldes. Es war dieser stete Austausch mit seinen Künstlerkollegen, der Daumier zu einem der ihren werden ließ, der als Karikaturist ein ferner Freund, doch Beachtung, Anteilnahme und Unterstützung bei ihnen fand.
Wie oben erwähnt, wurde 1832 Daumier als Wiederholungstäter wegen Verunglimpfung des Königs und seiner Minister zu 6 Monaten Haft verurteilt. Ende Januar 1833 kam er wieder frei und schloss sich einer Wohn- und Arbeitsgemeinschaft von Künstlern an, unter ihnen die Maler Paul Huet, Louis Cabat, Jeanron, Diaz de la Pena und der Bildhauer Auguste Preault. Schon 1831 hatte Philipp Auguste Jeanron mit seinen Künstlerkollegen Cabat, Huet, Decamps und Daumier eine „Societé libre de Peintres et de Sculpteurs“ gegründet. Über Huet fand Daumier auch zu Kontakten mit Delacroix, Victor Hugo, David d’Angers, Corot und Theodor Rousseau. Diese Künstlerfreundschaften banden Daumier ein in die sich entwickelnde künstlerische Avantgarde in Paris. Nicht von ungefähr schrieb Delacroix 1846 in einem Brief an Daumier: „Es gibt keinen, den ich mehr schätze und verehre als Sie“. Anfang der 1840er Jahre nahm Daumier Quartier auf der Ille St. Louis und wurde Nachbar und Freund von Baudelaire und Gautier – unweit von ihm wohnten seine Freunde Daubigny und Geoffroy Dechaume. 1847 wurde eine neue Künstlergruppierung gegründet, mit dem Ziel eines unabhängigen, jährlichen Salons, in dem allein die Künstler selbst als Juroren auftreten sollten. Getragen wurde dieser kunstpolitische Vorstoß von Delacroix, Jeanron, Preault, Decamps, Dupré, Jaques, Scheffer, Barye, Diaz, Rousseau, Daumier u.a.m.
1848 wurde diese Forderung noch einmal bekräftigt von Barye, Diaz, Dupré und Daumier. 1853 folgte Daumier seinen Freunden Daubigny und Geoffroy Dechaume nach Valmondois und Barbizon und nahm hier freundschaftliche Beziehungen auf zu Millet, Rousseau, Ziem und Corot. Ab 1853 verbrachte Daumier seine Sommermonate in Valmondois. Es folgten weitere regelmäßige Treffen mit befreundeten Künstlern in Barbizon, an denen auch führende Schriftsteller der Zeit wie Gautier, George Sand, Champfleury, die Maler Delacroix und Huet und der Maler-Fotograph Felix Nadar teilnahmen.
1860 wurde eine „unabhängige Gesellschaft zur Förderung der Künste“ gegründet unter Leitung von Rousseau und Diaz und unter Mitarbeit von Daumier. 1865 zog Daumier endgültig nach Valmondois um, behielt aber seine Wohnung in Paris. 1870 richtete Daumier zusammen mit Corot, Manet und Courbet ein Protestschreiben gegen die leidige Jury und forderte neue Regeln für den Salonbetrieb.
Das muss vorerst genügen, um deutlich zu machen, wie sehr Daumier eingebunden war in die künstlerische Avantgarde in Paris: mit den Malern aus Barbizon, den führenden romantischen Bildhauern David d’Angers und Préault, mit der romantischen Malerei eines Delacroix, mit den Realisten wie Courbet und mit den Vertretern einer neuen provokanten Malweise, den Impressionisten etwa Degas und Manet und schließlich mit einem Teil der schriftstellerischen Elite. Sie alle sind ein bestimmter Teil eines Bildes von Daumier — er bildet sich ihnen ab. Inwieweit Daumier wiederum direkt auf Schöpfungen von Künstlerkollegen Bezug nimmt und in die eigenen Arbeiten integriert ist nicht leicht auszumachen. Landschaftsbilder im Stile von Barbizon gibt es von ihm nicht. Zumindest die Skulptur des „Ratapoils“ lehnt sich in Körperdrehung und -gewichtung stark an die Figur des Robert Macaire des Bildhauers Jean-Pierre Dantan aus dem Jahre 1833 an. Dantan war ja auch von Philipon, der ihn sehr schätzte, beauftragt worden, eine Reihe von Karikatur-Portraitbüsten der politischen Vertreter der Juli-Monarchie zu modellieren, was dieser aber in Voraussicht zu erwartender Schwierigkeiten mit den Machthabern dankend ablehnte. Und so kam dann der junge Daumier an diesen Auftrag heran.
Einiges war auch der Bekanntschaft mit dem Tierbildhauer Barye zu verdanken: die Masseverteilung bei der Aufrichtung sich wölbender Körper – etwa bei der Darstellung von Kämpfenden – hat sich Daumier wohl bei dem Freund abgeschaut. Die pastosen und stumpfen Farben in Daumiers Malerei erinnern an die Farbpalette Millets.
Daumier war sich der Wertschätzung seiner Freunde und Kollegen gewiss, was auch dadurch zum Ausdruck kam, dass sich zahlreiche Künstlerkollegen eine Sammlung von Daumier- Lithographien, Zeichnungen und Bildern zulegten. Karikaturen von ihm besaßen Degas, Manet, Monet, Daubigny, Gavarni, Grandville, Geoffroy-Dechaume, Champfleury u.a.m. Später kamen als Sammler von Daumier-Grafik van Gogh, Toulouse Lautrec und Picasso dazu und von den deutschen Malern vor allem Max Liebermann.
Der Karikaturist Daumier hatte sich an vielen Stellen zum Kunstbetrieb seiner Zeit geäußert. Er zeigte die wirtschaftliche Misere der Künstler, er nahm die verständnislosen Kommentare von Salonbesuchern zu Bildern von Manet, Courbet oder Delacroix aufs Korn, ohne jedoch wie andere Karikaturisten, wie etwa Cham und Bertall die Werke dieser Künstler selbst abzuwerten. Seine kritischen Bilder zu den Landschaftsmalern, den sogenannten Pleinaristen beziehen sich nicht auf entsprechende Werke der Schule von Barbizon, sondern auf das nach dem Durchbruch und der Anerkennung der Pleinair-Malerei der Barbizonisten sich ausbreitendes Epigonentum von Malern, die aus der Großstadt kommend, orientierungslos verzweifelt nach einem geeigneten Motiv in der ihnen völlig unvertrauten Landschaft suchten. Vor allem aber sind es die kritischen Bilder von Daumier zum alljährlich stattfindenden Salon mitsamt seinen inkompetenten Juroren, den ungerechten Kunstkritikern; die Massierung von Bildern banalen und schwülstigen Inhalts, auf all’ das reagiert Daumier mit zorniger Verachtung.
Der Karikaturist Daumier hat uns ein, in seiner Gänze betrachtet, zwiespältige Reaktionen auslösendes Erbe hinterlassen. Er hat neben seinen etwa 400 kleinen lithographischen Meisterwerken – die werden immer wieder gezeigt! – eine riesige Zahl von belanglosen und oftmals lieblos schlecht gezeichneten Lithografien produziert. Das ist der andere, selten oder nie gezeigte Daumier, der oft in bedrückender Terminnot Bilder liefern mußte, Bilder, denen man die Unlust ansieht.
Sein Dauerzwist mit Philipon und einem Teil des Redaktionsstabes endete 1861 mit der Entlassung aus den Diensten des „Charivari“. Es folgten wirtschaftlich schwierige Zeiten. Er mußte die Wohnung auf der Ille St. Louis aufgeben und er nahm Quartier im neuen, vor allem von den Impressionisten bevorzugten Künstlerviertel, dem sogenannten „Nouvelle Athènes“ (9tes Arrondissement).
Daumier musste es bitter erfahren: als freier Künstler war er chancenlos. Nur Philipons Tod und die dann folgende Wiederaufnahme in den Mitarbeiterstab des „Charivari“ 1863 beendete diese für ihn böse Zeit. Daumier bedankte sich auf seine Weise: er zeichnete für den „Charivari“ zwischen 1866 und 1870, sein Alterswerk &ndsh; diese einzigartiger Blätter zu Krieg und Frieden in Europa, Blätter, deren unveränderte Aktualität uns heute noch bedrücken. Er sah das Ende des kaiserlich-imperialistischen Frankreichs kommen. Er erlebte eine der großen Tragödien Frankreichs des 19. Jahrhunderts: Commune und Bürgerkrieg, den Sieg Preußens über Frankreich und damit den Schrecken des Krieges als Dauergast in Europa.
Die Karikatur ist gemeinhin im Kontinuum der künstlerischen Darstellungsweisen ganz unten angesiedelt. Tageswitz bedeutet schnelles Vergessen. Aber gleichwohl, in diesen niederen Gefilden herrschen keine eindeutigen und verbindlichen Regeln für das, was man wie zu zeichnen hat. Und das ist der Bereich der kleinen Freiheit, in dem sich Daumier bewegt und den er zu nutzen versteht. Es ist die Freiheit des Probieren-Könnens. Daumier kann ohne von der Kunstkritik behelligt zu werden alle Stilmittel der zeichnerischen Umsetzung vorgegebener Sujets erproben. Er kann monumental zeichnen wie ein Bildhauer, der es versteht, die Tektonik des Körpers einer Person korrekt in die Bildsprache zu übertragen. Seine Figuren verlieren selten ihre Balance.
Er kann am anderen Extrem die Atemlosigkeit eines neuen Zeitgefühls einfangen, indem er die dargestellten Personen in ein Netz von Knick- und Zitterlinien einwickelt, um damit die Bewegung des Körpers im Raum in einem Zeitkontinuum zu beschreiben. Seine Figuren scheinen zu vibrieren.
In diesen Darstellungsmodi bewegen sich die 20.000 von ihm gezeichneten Gestalten. Deshalb ist auch sein Werk scheinbar so uneben und begrifflich so schwer zu fassen. Die Literatur über ihn hat ihn erklärt: zum Romantiker, zum Impressionisten, zum Expressionisten, zum Realisten, zum Fotografen unter den Malern und sonst noch etwas. Es ist dem Laboratorium der kleinen Freiheit der Karikatur geschuldet, die Daumier persönlich als die große Unfreiheit erfahren hat.
Thomas Metzen